Spielzeiteröffnung am Gorki Theater
Blick zurück auf Migration
von Eberhard Spreng
Aufgrund seiner Fassade nannte man das Gebäude in der Berliner Stresemannstraße 30 „Das rote Haus“. In den 1960 Jahren diente es als Unterkunft für die von Telefunken in der Türkei angeworbenen Arbeiterinnen. Seine Geschichte ist Anlass für eine Produktion von Ersan Mondtag, mit der das Gorki-Theater in die letzte von Shermin Langhoff verantwortete Spielzeit startet. Parallel dazu findet der 7. Berliner Herbstsalon statt, eine Kunstbiennale mit dem Titel „Re:Imagine“
Deutschlandfunk, Kultur Heute – 03.10.2025 → Beitrag hören

„Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut…“
Die Performancekünstlerin Ülkü Süngün unterrichtet die korrekte Aussprache der Namen von Opfern der rassistischen NSU-Morde. Sie tut dies auf dem Vorplatz des Berliner Gorki-Theaters zur Eröffnung dieser Spielzeit und des 7. Berliner Herbstsalons. Es geht um das Andenken postmigrantischer Schicksale in einem immer mehr von rechtem Denken geprägten Land. Im Saal geschieht dies anschließend mit der halbdokumentarischen Theaterarbeit „Das rote Haus“, mit dem ein Gebäude in der Stresemannstrasse gemeint ist, ein Haus mit einer langen Geschichte, in dem in den 1960er Jahren türkische Arbeiterinnen untergebracht waren.
„Das Grundstück neben der SPD-Parteizentrale, auf dem das unscheinbare rote Haus heute steht, gehörte zur »Plamannschen Erziehungsanstalt«. In dieser Knabenschule gehörten jedoch vor allem der Turnunterricht und der deutsche Patriotismus zu den wichtigsten Säulen der Erziehungsanstalt.
Otto von Bismarck, der wohl prominenteste Schüler des ehrwürdigen Internats…“
Ein Lautsprecher spuckt Bruchstücke historischer Wahrheiten aus, immer wieder unterbrochen vom Rauschen bei der Sendersuche. Ersan Mondtag inszeniert Das Rote Haus als einen verdüsterten Raum mit abgeplatztem Putz, als einen Ort, an dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Hinten erlaubt eine Fassade mit Galerie gelegentliche Durchblicke auf die Straße, an den Seiten könnte man Gefängniszellen vermuten; in der Mitte sind einige Etagenbetten zusammengestellt, in denen einige alte Damen gegen ihre Schlaflosigkeit ankämpfen. Ihre sehr unterschiedlichen familiären Vorgeschichten werden, von zauberhaften schwarz-weiss-Zeichentrickvideos begleitetet, auf der Vorderbühne erzählt.
„Canans Familie sind sephardische Juden. Und deine Familie hatte sich im Osmanischen Reich in Çanakkale angesiedelt, wo während des Thrakien-Pogromen 1934 die Juden erneut vertrieben wurden. Besitzlos kamen sie nach Istanbul.“
Mehrere Male unterbrechen solche wie Traumbilder inszenierte Familiengeschichten das Geschehen auf der Bühne und offenbaren die Vielfalt der kulturellen Identitäten all jener junger Frauen, die sich in den 1960er Jahren in den Werkhallen von Berliner Betrieben wiederfanden: Auf der Suche nach einer Existenzgrundlage, aber auch nach Freiheit von politischer Unterdrückung. Mondtags Arbeit stützt sich hier nicht nur auf dokumentarisches Material. Er lässt sich auch von deren wohl prominentesten ehemaligen Bewohnerin inspirieren, der Schriftstellerin und Büchner-Preisträgerin Emine Sevgi Özdamar. Sie hatte in den 1960er Jahren kurz als, wie es damals hieß, „Gastarbeiterin“ im roten Haus gewohnt, vor ihrer Karriere als Theaterschauspielerin, Autorin und Regisseurin in Istanbul, Ost-Berlin und Paris. Die Lebensleistung von Migrantinnen, so erzählen uns Mondtag an diesem Abend und Shermin Langhoff am Gorki seit 13 Jahren ist eben nie nur eine Arbeitsleistung im volkswirtschaftlichen Sinne, sondern immer auch Kulturleistung, ein gesellschaftlicher Beitrag, den rechtes Remigrationsgerede leugnen will.
„Nun, wo wir in der Regierungsverantwortung sind, werden die deutschen Grenzen ‚dicht‘ gemacht. Es wird Rückführungen in großem Stil geben. Wenn es dann Remigration heißen soll, dann heißt es eben Remigration“

Mondtags berührendes Gruppenporträt endet in dystopischen Visionen, reagiert auf das aktuelle rechte Klima ästhetisch aber nicht kämpferisch sondern mit Hüzün, einem schicksalsergebenen Lebensgefühl und einem traumverlorenen Soundtrack. Seine Bühne verdichtet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als bedrückende Raumerfahrung, gegen den ein Frauenchor immer wieder mit einer vitalen Form der Melancholie ansingt.
Eine zweite kleine Arbeit der Spielzeiteröffnung am Gorki inszeniert einen Text der Malerin und Schriftstellerin Etel Adnan: „To be in a time of war“ von 2005. Das ist eine Meditation über die Frage, wie eine Kriegssituation das private Leben verändert.
„Wait for the rain to stop,
There rain bombs over Bagdad.“
Der zweite Golfkrieg war Anstoß für einen Text, in dem poetische Metaphorik die blutige Außenwelt mit der noch friedlichen Persönlichkeitssphäre verbindet. Die Unbehaustheit in einer Situation globaler Gewalt rückt nun auch für Europäer immer näher. Eine wütende Performance von Delaine le Bas attackierte dann zum Abschluss des Abends den Irrsinn, der solche Weltzustände verursacht. Zwischen Bühne, Performance und bildender Kunst gelingt Shermin Langhoff ein toller Aufschlag für ihre letzte Gorki-Spielzeit.