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„Peer Gynt“ in Bochum
Die Welt steht nicht mehr zur Verfügung
von Eberhard Spreng

Dušan David Pařízek inszeniert in Bochum Ibsens „Peer Gynt“ und besetzt die männliche Hauptrolle des Lügners und Abenteurers, crossgender, mit einer jungen Schauspielerin. Seine Regiearbeit war die erste Online-Premiere des Bochumer Hauses in der Pandemie.

Deutschlandfunk, Kultur heute – 25.04.2021 → Beitrag hören

Anna Drexler (Foto: Matthias Horn)

Eine riesige Holzfläche spannt sich über die Bühne. Sie steht schräg, so schräg, dass die Schauspielerinnen und Schauspieler an ihr herunterrutschen, wenn sie den Halt verlieren. Oft war diese Fläche in deutschen Theatern zu sehen. Meistens immer dann, wenn vom existenziellen Ungleichgewicht erzählt werden soll, von einer grundsätzlichen psychischen Unvereinbarkeit von Hauptfigur und seiner äußeren Wirklichkeit. Es ist ein Peer Gynt Dekor, das man sofort als plausibel und ein bisschen konventionell abwinkt. Wäre da nicht ein Ensemble, das in Crossgenderbesetzung Ibsens dramatischem Gedicht fröhlich den Selbstbefragungsernst austreibt. Es beginnt mit dem Streit zwischen der ungeheuer vitalen Anna Drexler als Peer und Michael Lippold als dessen Mutter Aase.

„Heb mich runter.
Beugs Du dich.
Heb mich runter!
Muttchen! Wüt nicht mehr!
Wärst du doch nur als Wechselbalg verschollen!
Pah! Schäm dich!“

Dieser Peer strahlt kindlich selbstverzückt, zum Beispiel bei der Begegnung mit der Solvejg. Anne Rietmeijer spielt sie so gar nicht als religiös umflorte, zu ewigem Warten und Selbstaufopferung bereite Frau. Vor allem, wenn der Selbsterkundungsreisende Peer bei den Trollen angekommen ist, wird die Bühne zum Versammlungsraum für eine Clique im Revoltemodus.

“It’s been ages since we saw the sun.”

“Fuck the System” hat sich Trollkönig Dovre in großer schwarzer Schrift auf die Brust gemalt, auch Peers hellen Trenchmantel zieren Spuren linker Bewegungen der Vergangenheit, das Peace-Zeichen zum Beispiel. Die Liebesgeschichten, die bei Ibsens Peer Gynt immer in der frühen Trennung enden, bebildert Regisseur Dušan David Pařízek zusätzlich coronakompatibel mit einer Ironie: Die Liebenden werfen sich eine Folie über Kopf und Körper bevor sie sich zum Kuss annähern. Für die Trollszene ist das das Dekor komplett gedreht worden. Wie zu einem Blick in die Unterwelt sieht man nun auf die dunkle Rückseite der drehbaren Konstruktion. Flachgelegt ist sie später, wenn die sehr wandlungsfähige Anna Drexler den Titelhelden als selbstverliebten und arrogant-ironischen Geschäftemacher gibt. Seinen Unterhalt verdient er mit Sklavenhandel.

Die Stimme Afrikas

Nun tritt die Aufführung, die eine kluge Bildregie zwischendurch auch aus der Vogelperspektive einfängt, für einen Moment neben sich und lässt die schwarze Schauspielerin Mercy Dorcas Otieno ganz nah an die Kamera treten, dem Streamingpublikum scharf ins Auge blickend.

Mercy Dorcas Otieno (Foto: Matthias Horn)

„Seit fünfhundert Jahren haben wir Euch alles gegeben, was wäre die Welt ohne Afrika, und was gabt ihr als Gegenleistung. Nichts! Kennen Sie Elmina Castle? Einer der wichtigsten Punkte auf der Route der Sklavenhandels. Mein Urgroßvater wurde dort von der Kolonialregierung gefoltert und ermordet.“

Ein Interview der ghanaischen Schriftstellerin Ama Ata Aidoo schiebt sich hier in Ibsens fabulierte Bilder der Welt. Und diese Welt soll hier nicht mehr einfach nur die Folie für die scheiternde Selbsterkundung eines weißen Mannes namens Peer Gynt sein. Ebenso wenig will Regisseur Dušan David Pařízek sein Ensemble für die Erkundung der Ibsenschen Figurenentwicklungen benutzen. Peer muss sich hier nicht, weil er sich gegen die kritische Selbsterkenntnis wehrt, auf eine vergebliche Suche quer durch die äußere Welt machen. Das alles hier ist pure Spielfreude, ohne eine metaphysische Wolke. Und das schafft Raum auch für brillant komische Passagen wie im Spiel des Konstantin Bühler.

„Hand aufs Herz, wer sind’se?
– Peer Gynt.
– Und wat sind’se?
 – Ähm, isch selbst.
– Isch selbst, also Er, Er selbst?“

Alle gegen Ibsen! heißt es auch am Ende, wo der Dramatiker einst die Rückkehr des gescheiterten Gynt zur nunmehr gealterten und treu wartenden Solvejg erzählt. Nichts mehr von solch altertümlichen Frauenbildern will uns Anne Rietmeijer vermitteln.

„Ich wollte einfach, dass Du weißt, dass wenn Du nächsten Mal verreist, ich nicht mehr da bin. Ich warte nicht mehr hier, ich pass nicht mehr auf Papier. Ich lasse dich allein, ich möchte Solvejg nicht mehr sein.“

Und Peer Gynt, den uns eine großartige Schauspielerin als vital Neugierigen vorführt? Das ist keine schematische Emanzipation, die nun einer Frau das Abenteuer emotionaler Ausbeutung und dummer Geschäftemacherei zugesteht. Auch wird hier Peer am Ende nicht geläutert, hier stellt sich das Theater von heute gegen die Dramenkonzeption der Vergangenheit, so als wäre es ein Ort, der noch dekolonisiert werden muss.