Drei Regisseurinnen in Avignon
Dystopien aus weiblicher Sicht
von Eberhard Spreng
Drei Regisseurinnen prägen die erste Festivalwoche. Mit Caroline Guiela Nguyen, Angélica Liddell und Anne-Cécile Vandalem darf sich das Festival über starke Regiehandschriften freuen. Dabei hat „Liebestod“ das Potential, Kult zu werden.
Deutschlandfunk, Kultur Heute – 09.07.2021 → Beitrag hören
Das Dekor in Angélica Liddells „Liebestod“ ist nichts weiter als ein ockerfarbenes Stück der Bande, wie man sie in Stierarenen vorfindet, mit zwei Ein- und Ausstiegen, aus denen gelegentlich Nebenfiguren den Spielraum betreten. Dieser Liebestod ist ein Solo der Regisseurin und Performerin, eine Beschwörung, eine Passion und Abrechnung mit einer Kultur, die den Kontakt zu ihren kultischen und mythologischen Quellen verloren hat.
Es ist aber auch eine Publikumsbeschimpfung, denn Angélica Liddell provoziert hier mit einem Text, der ihre persönliche Dämonen und kulturellen Quellen thematisiert. Zunächst hatte sie zu einem lebensgroßen Stiermodell gesprochen. Die einzige Chance, sich vom Tod zu befreien sei, ihn herbei zu wünschen, hatte sie da gesagt. Eine Theokratie sei zu errichten, denn ein umfassendes Sicherheitsdenken in einer total rationalen Welt habe die Menschen in Idioten verwandelt, die ihre kleinen Rechte mästeten wie dereinst die Hausschweine. Angélica Liddell spricht zu sich selbst und lange denkt man, man höre die Stimme eines Eltern-Über-Ichs, die da eine verträumte Künstlerin über das zu erwartende Scheitern ihrer Vorstellungen von Mensch und Kultur belehre. Dann wird deutlich, dass hier Isolde, die Todesverliebte aus Richard Wagners Oper aus den Tiefen der Mythengeschichte einer Künstlerin von Heute ins Konzept redet. „Liebestod“ ist vor allem eine Selbstpassion, das Eingeständnis eines notwendigen Scheiterns in einer apollinischen Vernunftskultur.
“Habia sustituido la tragedia por el sentido del deber y essa causava una tristessa imensibile”
„Sie haben die Tragödie durchs Pflichtbewusstsein ersetzt und damit eine unermessliche Traurigkeit hervorgerufen.“ „Liebestod“ – ist unbedingtes Powerplay und suggestiver Sog der Worte und der Bilder: Ein seltenes, heftiges Theatervergnügen, ein gewaltiger Festivalerfolg und mit Sicherheit künftig ein Mythos.
Wo Liddell das Ende einer kraftlosen Zivilisation mit mythologischer Auszehrung erklärt, zeigt Caroline Guiela Nguyen das Scheitern der Technologiegläubigkeit unserer Welt in einem futuristischen Märchen. Während einer Sonnenfinsternis ist die Hälfte der Menschheit verschwunden und nun bemühen sich die übrig Gebliebenen mit allerlei technologischen und sozialpädagogischen Mitteln um eine Bewältigung dieses ungeheuren Verlustes.
“…et c’est dans cette urgence qu’on créa partout dans le monde de nouveaux lieux. En Europe on les appela des Centres de Soin et de Consolation.”
Spielort ist ein sogenanntes „Pflege und Trostzentrum“. Dort nehmen die Menschen in einer Kabine eineinhalb minütige Videobotschaften für die Verschollenen auf, machen Familienaufstellungen, veranstalten Kochkurse für die Lieblingsgerichte der Verschwundenen. Und sie streiten über die Strategien der Krisenbewältigung.
Wo Caroline Guiela Nguyen noch glaubt, dass die Menschheit ein Problem hat, weiß Anne-Cécile Vandalem, dass die Menschheit ein Problem ist: Sie beendet mit ihrem Stück „Kingdom“ ihre Trilogie über dystopische Menschheitszustände mit einer finsteren Waldfabel. Angelehnt an den Dokumentarfilm „Braguino“ erzählt sie vom Scheitern einer Aussteigerfamilie in der sibirischen Taiga, von Zerwürfnis und Gewalt, zu deren schuldlosen Opfern vor allem die Kinder werden.
Auch hier wird in einem naturalistischen Dekor aus Bäumen, Bach und Hütten ein trauriger Plot erzählt, aber die belgische Regisseurin schafft eine atmosphärische Dichte mit hoher Suggestionskraft, in der jeder Spielrealismus eine symbolmächtige Seite bekommt. Egal ob der Mensch in den Mythos, die Technik oder die Natur ausbüchst, er steht sich immer wieder selbst gegenüber als das Tier, das keins sein möchte und Avignon zeigt das in drei kraftvollen weibliche Regiehandschriften.
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