Der-Koffer-von-Małgorzata Sikorska-Miszczuk-als-erste-Premiere-nach-dem-Lockdown

Theater nach dem Lockdown
Vom Winde bewegt
von Eberhard Spreng

ALLESANDERSPLATZ steht über der Fassade des ehemaligen „Haus der Statistik“, einem entmieteten Betonklotz aus der DDR-Zeit. Er wird derzeit unter anderem von der „Dramatischen Republik“ genutzt. Sie ist Veranstalter der Premiere des Stücks „Der Koffer“ der Polin Małgorzata Sikorska-Miszczuk. Rolf Kemnitzer hat das als erste Berliner Premiere nach dem Corona-Lockdown eingerichtet.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 07.06.2020 → Beitrag hören

Allesandersplatz als Aufschrift über dem ehem. Haus der Statistik
Foto: Eberhard Spreng

Vielleicht ist die Wahrheit oder zumindest kleine Bruchstücke von ihr etwas, das uns von Windgeistern eingeflüstert wird. Unvermittelte Botschaften an eine Welt, die mit der Wahrheit nicht gerne konfrontiert wird. Allegorien dafür könnten zwei Figuren sein. Knapp über den Köpfen der auf der Fläche eines ehemaligen Autoscooters auf Plastikstühlen locker verteilten Zuschauer, balancieren ein junger Mann im goldigem Glitzeranzug und eine junge Frau im langen rosa Kleid über das ehemalige Stromnetz und raunen sich Einsichten über ein „Museum der Vernichtung“ zu. Es sind der „Erzähler“ und die „Anrufbeantworterstimme“. Das sind keine Figuren der großen Menschengeschichte, sondern eher kleine heimliche Einflüsterer, die die Menschen zu ihren Erkenntniszielen schupsen können, hin auch zu bitteren Einsichten. Und genau die braucht Fransoua Jako, ein trauriger Mann, verloren auf der bislang vergeblichen Suche nach der Geschichte seines leiblichen Vaters. Er entdeckt eines Tages, im „Museum der Vernichtung“, überraschend dessen Koffer. Den Koffer von Leo Pantofelnik, französischer Jude, inhaftiert und deportiert, vergast in Auschwitz. „Dieser Koffer ist echt, so wie alle anderen Gegenstände in diesem Museum. Der Koffer ist sehr weit gereist, durch halb Europa, mit dem Zug, vom Lager Drancy nach Auschwitz. In Auschwitz war Endstation. Wir wissen nicht viel, wir wissen nur: dieser Koffer existiert, während sein Besitzer ermordet wurde.“

Foto: Dramatische Republik

Auf dem zugigen Hof hinter dem ausgeweideten Betonklotz am Alexanderplatz, sind aber neben den eingangs erwähnten, allegorischen auch reale Windgeister unterwegs, in Form eines ziemlich kühlen Nordwinds, der die bereitgehängten Kostüme bläht, den Straßenlärm heranweht und die schrillen Schreie der Schwalben.

Das Stück greift einen realen Fall auf

Da, wo man einst aufeinander Jagd machte, mit den Fahrzeugen des Autoscooters eben, stehen heute ein paar fahrbare und ein paar fixe Podeste, das spärliche Dekor für eine Geschichte, für die sich die polnische Dramatikerin Małgorzata Sikorska-Miszczuk von einem Fait divers inspirieren ließ: Vor Jahren hatte ein Franzose per Zufall bei einem Museumsbesuch einen Koffer am noch vorhandenen Namensschildchen als das Eigentum seines in Auschwitz vergasten Vaters erkannt. Er bat das Mémorial de la Shoah in Paris um Herausgabe des Koffers, der wiederum dort nur als Leihgabe der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau ausgestellt war. Der nachfolgende Streit beschäftigte sogar ein Gericht. Wem die materiellen Zeugnisse der Geschichte gehören, was für Geschichten sie erzählen, wie sie zu Symbolen werden gar für den Untergang der europäischen Zivilisation und was sie bedeuten für den, der nach ganz persönlichen Wahrheiten sucht, damit befasst sich das mehrfach ausgezeichnete Stück: „Also ich feiere für alle Fälle Ramadan, gehe zur Christmette, faste am Jom Kippur und meditiere in Nepal. Ich weiß eigentlich nicht, wer ich bin.“

Daniel Blum spielt konzentriert einen Mann, der sein Heil auf der Suche nach seiner Identität im Polytheismus sucht, bevor er von einer Familiengeschichte erfährt, die ihm seine Mutter immer verschwieg. Mit einer leicht ironischen Haltung, mit Metaphorik und Allegorie bewegt sich das Stück „Der Koffer“ leichtfüßig in der verfinsterten Erinnerungskultur rund um die Shoa. Rolf Kemnitzer gelingt eine luftig in den Raum gestreute Inszenierung. Ansteckungsgefahren sind für das Publikum so nicht gegeben. Nur Paul Maximilian Boche und Ini Dill kommen sich als die auf Wahrheit drängenden Kobolde und Luftgeister flirtend für längere Augenblicke infektionsrelevant nahe.

Auch wenn dieser Spielraum das Innen und das Außen des Theaters kaum voneinander trennt, und auch wenn ein Wachdienstsmann auf seiner Routinetour mit dem Auto um das offene Theater herumfährt; wenn also das Reale sich für Momente in die Realität der Kunst einmischt, erleben wir endlich nach Wochen der digitalen Ersatzprogramme die Rückkehr des wirklichen Theaters in seiner ganzen Stofflichkeit. Und die ist, wie hier, selbst in ihrer fragilen Form, auf der Stelle suchtbildend. Deshalb geht’s dem Publikum dann am Ende wie dem Protagonisten. Wie heißt’s im Stück? „Wer einmal von der Wahrheit gekostet hat, will ohne sie nicht mehr leben.“