Politisches Theater in Avignon
Was ist das: Wirklichkeit?
von Eberhard Spreng
Mit „Baldwin and Buckley at Cambridge“, „Neandertal“ und „Jardin des Délices“ stellt Avignon hochaktuelle Fragen nach der Macht von Realitätssystemen und setzt damit seine politischen Erkundung fort.
Deutschlandfunk, Kultur Heute – 10.07.2023 → Beitrag hören
„Existiert der amerikanische Traum aufkosten des amerikanischen Schwarzen?“ Über diese Streitfrage debattierten im Jahr 1965 der rechtskonservative Vordenker William F. Buckley und der Schriftsteller James Baldwin in Cambridge. Die New Yorker Theatergruppe Elevator Repair System gastiert mit ihrem Reenactment „Baldwin and Buckley at Cambridge“, mit einer für die Geschichte der abendländische Rassismusdebatte emblematischen Begegnung in Avignon. Und das Festivalpublikum, das zumal Baldwins Ausführungen gebannt folgt, hat Gelegenheit, seine fast 70 Jahre alte Argumentation auf die brennende französische Wirklichkeit zu beziehen.
„Es hat meines Erachtens mit dem eigenen Blickwinkel zu tun, mit dem eigenen Sinn für Realität. Die Antwort auf die Frage hängt also davon ab, wo man sich in der Welt befindet, welche Vorstellung von Wirklichkeit man hat, welches Realitätssystem. Ein Sheriff aus Alabama oder Mississippi ist wirklich davon überzeugt, dass eine schwarzer Junge oder Mädchen, das ein System angreift, dem er seine ganze Identität verdankt, verrückt sein muss.“

Greig Sargeant spricht Baldwins Text und obwohl dieser noch wie selbstverständlich das N-Wort enthielt und aus der Zeit der vorletzten amerikanischen Rassenunruhen stammt, denkt jeder gleichzeitig an die gerade erst abgeflauten Straßenkämpfe in Frankreich. Während die französische Presse nun serienweise sozialpsychologische Erklärstücke druckt, Artikel über alleinerziehende Mütter, fehlende Väter, die so fehlende Autorität und ähnliches, erinnert dieses Theater an ein tiefer liegendes Problem: Das Gar-Nicht-In-Unserer-Welt-Sein der zumal nord- afrikanischen Diaspora in Frankreich. Es zeigt auch, dass es nun eine grundlegende Gesellschaftsdebatte braucht und nicht nur ein paar mehr Subventionen für die Banlieues.

Wie etablieren sich Realitätssysteme und wie werden sie zur Grundlage von Macht und Gewalt? Diese Frage stellt David Geselson in seinem Stück „Neandertal“, das in Avignon uraufgeführt wurde. Da ist eine Gruppe von Wissenschaftlern damit beschäftigt, in alten Knochenfunden Spuren der DNA zu finden und aus ihnen die demografische Vorgeschichte zu erschließen, auch Spuren großer Erschütterungen wie Verwüstungen und Kriege. Eingelagert in ihre Forschungsarbeit sind private Verwicklungen, Fragen nach der eigenen DNA und der aktuellen Geschichte: Zumal der jüngeren Zeitgeschichte Israels, der Ermordung Yitzhak Rabins, der Besiedlungspolitik Netanjahus und seinem Interesse an Genforschung als Letztbegründung für seine Politik. Geselsons scharfe Kritik an jüdischem Fundamentalismus legt er in den Mund einer seiner Wissenschaftlerinnen.
„Ihr Gott bringt nichts als Krieg, Elend, Zerstörung, Rache, Ignoranz, Feigheit und Angst. Ihr Gott befreit sie davon, wirkliche Menschen zu sein. Sie sagen: Ihr Gott hat ihnen das Land gegeben, Ihr Buch hat ihnen das Land gegeben, dabei sind sie selbst die Feinde des Landes. Denn das Buch ist eines, das ein Mensch für einen anderen Menschen geschrieben hat, eine Rede, die aussagt: Du wirst Frieden schaffen für alle.“
David Geselson, jüdisch-atheistischer Film- und Theatermacher, spürt in religiösen Systemen, in wissenschaftlichen Forschungen und in privaten Beziehungen Unschärfen auf, Grauzonen und Irrtümer, die allesamt in Frage stellen, was man für gesichert hält.
Wie entsteht überhaupt so etwas wie Realität. Zum Beispiel in einer Stunde-Null-Situation? Das beantwortet Philipe Quesne in der Garrigue weit außerhalb der Stadt. Im wüsten Steinbruch von Boulbon kommt ein kleiner Bus angerollt, geschoben von ein paar Leuten, die auf einer Terra Incognita Zuflucht suchen, das Gelände erkunden, mit Schaufel und Spitzhacke hantieren, schließlich ein mannshohes Ei aufrichten und sich wie zur Andacht im Kreis aufstellen. Ist dieses Ei das religiöse Symbol ihrer in einer ökologischen Katastrophe untergegangenen Zivilisation? Das bleibt eine Frage, den dieser traumschöne „Jardin des Délices“ offen lässt. Das nur locker Boschs „Garten der Lüste“ entlehnte Schauspiel ist zu jedem Zeitpunkt konkretes Theater, real und ohne simple Verbindung zu unserem Verständnis von Wirklichkeit.
„Monsieur à la cravate jaune vous avez besoin d’aide ? – Non, tout va bien. – Et il marche ? – Oui, oui. – Pardon ? – Pardon, j’ai pas compris. – Il fonctionne ? – Oui, oui – normalement, il fonctionne normalement.“

Was Philipe Quesnes skurrile Gestalten da tun, können wir sehen, aber warum, das bleibt unerklärt. Wir erleben die Errichtung einer Parallelwirklichkeit und mit jeder weiterer Minute in den forschreitenden Betätigungen verwandelt sich das rätselhaft Reale in eine neue Realität, die nunmehr das Publikum einschließt. Toll, das in einem Theater wieder einmal zu erleben. Da das Stück bald zur Ruhrtriennale und später nach Berlin kommt, soll hier nicht gespoilert werden, was in diesem Bildtheater alles zu sehen ist. Verraten darf man, dass über allem eine ganz wunderbare, ganz unzeitgemäße Behutsamkeit und Zartheit liegt, die dem politisch geschundenen und verunsicherten Frankreich auf dem Festival in Avignon sehr gut tut.