Das Festival in Avignon startet politisch mit Groove und Welfare

Das Festival in Avignon startet politisch
Blick in eine gespaltene Gesellschaft
von Eberhard Spreng

Julie Deliquet heißt die Regisseurin der Inszenierung „Welfare“, mit der das diesjährige Festival in Avignon im Papstpalast beginnt. Sie theatralisiert die Realisierung des Dokumentarfilms „Welfare“ (1973) des mit dem Ehrenoscar ausgezeichneten Frederick Wiseman. Zuvor gab es bereits eine Aufführungsfolge unter dem Titel G.R.O.O.V.E.. Choreografin ist die Streetart-Künstlerin Bintou Dembélé.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 06.07.2023 → Beitrag hören
Deutschlandfunk Kultur- Fazit – 05.07.2023 → Gespräch hören

Foto: Christophe Raynaud de Lage

Das Festival beginnt auf der Straße, in der Öffentlichkeit, dort, wo seit Jahren freie Theatergruppen um die Aufmerksamkeit des Publikums buhlen: Die Choreographin Bintou Dembélé tanzt ein kleines Solo, im Hintergrund steigt blauer und rosa Rauch auf. Plötzlich stellen sich Mitglieder ihres Ensembles Rualité in eine Reihe und richten die ersten Worte an das Publikum.

„Ich sah einen Bildschirm mit einem Video“ sagt ein Performer „und auf dem Video ein gelbes Auto. Ich sah zwei Bullen an der Seite. Ich sah einen Bullen mit gezogener Waffe und hörte ihn sagen: „Keine Bewegung oder ich jage dir eine Kugel in den Kopf.“

Der Tod des 17 jährigen Nahel in Nanterre vor einer Woche ist Thema. Der kleine Text, der in die Performance Bintou Dembélés aufgenommen wurde, ist Andacht für Nahel, ist Dokument der Rat- und vor allem Machtlosigkeit, endet aber in einem Appell zur Überwindung dieser Gefühle durch eine Urkraft des Körpers im Tanz. Dembélé ist französische HipHop-Aktivistin und hat sich im globalen Süden mit der Bedeutung des Tanzes in politischen Befreiungsbewegungen beschäftigt. Ihre Produktion G.R.O.O.V.E, die Avignon nach der Uraufführung in der Oper des nordfranzösische Lille ins Programm nimmt, setzt sich dann im ehrwürdigen Opernsaal der Festivalstadt fort. Das Publikum erlebt völlig unterschiedliche Ansätze: Der eindringlichste ist ein suggestives Ritual auf der schwarzen Bühne. Ein toter Körper wird behutsam aufgehoben, zeremoniell neben ein Feuer aus aufgeschichteten Neonlampen gelegt und schließlich am Seil in den Bühnenboden gezogen. Von ganz hoch oben kommt derweil alte Kleidung an Kleiderhaken herabgesunken – wie in Installationen einst des Christian Boltanski über Vergänglichkeit und Spuren des Lebens. Man kann das nicht anders erleben denn als stumme Totenfeier für die Opfer von Gewalt auf der Straße. Später erlebt das Publikum den furiosen Tanz schwarzer Körper zu auftrumpfender weißer Barockmusik. Goldene Umhänge wehen dabei zwischen dem vergoldeten Putz des Opernhauses. Schließlich ein Rap-Konzert für tanzendes Publikum. Dramaturgisch ist G.R.O.O.V.E. wenig überzeugend und präsentiert sich wie eine lose Sammlung kurzer Arbeiten, zum Vorglühen für eine Festival der Befreiungen ist es aber bestens geeignet.

Am Abend im Papstpalast, nachdem die dunkel gekleidete Politblase um Kulturministerin Rima Abdul Malak Platz genommen hat, tritt Julie Deliquet, die Regisseurin der zweiten Eröffnungspremiere an die Rampe.

„Je vous invite qu’on partage toutes et tous une minute de silence en la mémoire de Nahel“.

Eine Gedenkminute für Nahel. Wird der durch Polizeikugeln getötete Jugendliche nun zum Märtyrer für eine Fraktion in einer tief gespaltenen französischen Gesellschaft, wo die Einen um Nahel trauern während die anderen ein mittlerweile millionenschweres Spendenkonto für den inhaftierten Polizisten auflegen? Wird Nahels Tod vereinnahmt für einen Kulturbetrieb, der seine Bedeutung nur noch behauten kann, indem er politisch Position bezieht? Julie Deliquets Inszenierung „Welfare“ jedenfalls nimmt Partei für den Rand der Gesellschaft, die Armen, das Prekariat. Sie wagt dabei eine Theaterversion eines 50 Jahre alten amerikanischen Dokumentarfilms.

„L’égalité, aujourd’hui, c’est quand quelqu’un a et qu’un autre n’a rien…“

Foto: Christophe Raynaud de Lage

Der berühmte Dokumentarfilmer Frederick Wiseman hatte über Wochen das Geschehen in einem New Yorker Sozialhilfebüro verfolgt, die Verzweiflung, Verlorenheit, den Kampf um die Stütze in den Gesichtern seiner Protagonistinen und Protagonisten eingefangen. Ein großer Film, weit mehr als zwei Stunden Leben, in dem jeder immer auch Anwalt der eigenen Sache ist, performen muss, überzeugen. Ein Fall für Theater, könnte man meinen. Aber Julie Deliquet rückt die Akteurinnen und Akteure, die der Film in Halbnaheinstellungen, in Großaufnahmen und mit einem klugen Schnitt aufeinander bezog, auf der großen Papstpalastbühne weit auseinander. Sie enthält sich bewusst der sonst üblichen Videotechnik und taucht die hier auf einem weiten Turnhallenboden angesiedelte Szene in ein völlig gleichförmiges, kalt weißes Licht. Sie eliminiert so alles, was theatral der filmische Montage entsprechen und den Blick fokussieren könnte und vertaut allein auf die Kraft des Spiels im weiten Raum. Aber trotz überzeugenden kleiner Momente: die suggestive Kraft der des Films ist hier nicht nach zu erleben, die Empathie des Publikums mit dem Schicksal der Ausgestoßenen bleibt aus. Avignon erlebt einen dezidiert politischen Start mit fragwürdiger künstlerischer Bilanz.