Festival in Avignon
Entgrenzung und Exil im Weltraum
Von Eberhard Spreng
Deutschlandfunk, Kultur Heute – 08.07.2025 → Beitrag hören
Deutschlandfunk, Fazit – 07.07.2025 → Gespräch hören
Der Portugiese Tiago Rodrigues leitet das Festival in Avignon nun zum dritten Mal. Er ist Autor und Regisseur des Stückes „La Distance“, das am dritten Festivaltag uraufgeführt wurde. Zuvor war Anne Teresa de Keersmaeker mit „Brel“ im Steinbruch bei Boulbon zu sehen und die dänische Choreografin Mette Ingvartsen inszeniert mit „Delirious Night“ einen Veitstanz.

Die Schatten von zwei Tanzenden huschen über die rohe Felswand im Steinbruch von Boulbon. Gelegentlich flammen schwarz-weiße Filmbilder auf, zeigen auf dem Fels historische Ansichten aus Flandern oder das Antlitz des belgischen Chansonniers Jacques Brel.
„Marieke Marieke je t’aimais tant entre les tours de Bruges et Gand“
Die belgische Choreografin Anne Teresa de Keersmaeker hat sich mit dem französischen Tänzer Solal Mariotte zusammengetan, um den Chansons des Ausnahmekünstlers Brel in dieser archaischen Landschaft einen unerwarteten Assoziationsraum zu geben: Denn wenn die in eleganten Konzerthäusern ausgenommenen Bilder des Sängers hier auf rohen Stein treffen, werden sie zu Höhlenmalereien mit Ewigkeitswert. Wenn sein Antlitz zum flehenden Gesang von „Ne me quitte pas“ für einen kurzen Moment auf nackte Haut projiziert wird, dann ist ein Bild gefunden für seelische Entblößung und Schutzlosigkeit.
Brels poetische Seelenlandschaften und Liebesgeschichten an einem kargen Naturschauplatz, das ist eines der schönen Spannungsfelder, für die das Festival in Avignon steht.

Ein anderes ist im klassizistischen Innenhof eines katholischen Privatgymnasiums zu erleben, wo Mette Ingvartsen eine „Choreomanie“ inszeniert. So nennt man die Tanzwut, die im Mittelalter unwillkürlich große Menschenmassen ergreifen konnte. Über die Auslöser des so genannten Veitstanzes wird spekuliert: Es könnten Mutterkornvergiftungen oder eine unwillkürliche Massenreaktion auf soziale und metaphysische Stresszustände infolge von Pestepidemien, Hungersnöten oder religiösen Konflikten sein. Der Veitstanz ist historisches Vorbild für Mette Ingvartsens „Delirious Night“, wo zehn Tänzerinnen und Tänzer zu Will Guthries Schlagzeug in eine sich steigernde Bewegungsekstase verfallen. Wäre „Delirious Night“ im Nachgang der restriktiven Covid-19 Zeit, für ein auch heute von diversen globalen Krisen gestresstem Publikum wirklich eine kathartische Befreiung, Mette Ingvartsens sympathischer Ansatz könnte begeistern. Leider bietet der kurze Abend aber kaum mehr, als eine Illustration für willenlose Körperperformance.

Die innere Bewegung beim Blick auf die privaten Folgen der kommenden Klimakatastrophe durfte das Festivalpublikum dann aber bei der Uraufführung von Tiago Rodrigues’ „La Distance“ erleben: Wir schreiben das Jahr 2077, Vater und Tochter leben in abertausenden Kilometern Entfernung, verbunden nur noch durch technisch übermittelte Botschaften: Er ist auf einer ökologisch verwüsteten Erde geblieben, sie ist Teil einer Vorausmission, die auf dem Mars eine neue Zivilisation errichten soll. Betrieben von einem Privatunternehmen namens Novus, das man sich sicher als einen Nachfahren heutiger kalifornischer Tech-Giganten vorstellen darf.
„Am Ende des Verfahrens behalten die Vergessenden alles technische Wissen in Erinnerung. Alles andere ist vergessen: Die Erinnerung an die Erde, die Menschheit, an das eigene Leben, den eigenen Vornamen.“
Tiago Rodrigues gelingt ein kleines Wunder: Er überhöht den aktuellen Generationenkonflikt dramaturgisch schlüssig mit einem philosophischen Streit: Die Tochter wirft dem Vater berechtigterweise vor, dass die auf Kulturtraditionen basierte Menschheitsgeschichte gescheitert sei, da sie im ökologischen Desaster landete. Er wirft ihr berechtigterweise vor, ihr Menschsein im Dienste einer Fiktion vom völligen Neuanfang an eine totalitäre Technokratie zu verraten. Hier stellt das Theater den derzeit von faschistoidem Denken verseuchten Science-Fiction-Träumen moralische Fragen entgegen: Die wichtigste: Wenn der Mensch die Erde verlässt, hört er dann nicht selbst auf, Mensch zu sein? Rodrigues kleiner Dialog „La Distance“ ist ein Musterbeispiel dafür, wie das Theater aktuelle technologische Debatten auf einen philosophischen Grund stellen kann.