Das-Festival-in-Avignon-eroeffnet-mit-Koohestani-und-Serebrennikov

76. Festival d’Avignon eröffnet
Exil auf und hinter der Bühne
von Eberhard Spreng

Das Festival in Avignon zeigt zur Eröffnung ein Gastspiel vom Hamburger Thalia-Theater: „Der schwarze Mönch“. Regisseur ist der Russe Kirill Serebrennikov und das war schon im Vorfeld Thema für die französische Presse. Außerdem inszeniert Amir Reza Koohestani mit Anna Seghers „Transit“ auch eine sehr persönliche Erfahrung als unerwünschter Reisender am Flughafen in München.

Deutschlandfunk, Kultur heute – 08.07.2022 → Beitrag hören

Zum Applaus im Papstpalast bei der zweiten Premiere des Eröffnungsabends. Foto: Eberhard Spreng

Ein durch und durch grauer Raum mit ein paar fahrbaren Blenden und Glaskabinen. Ein modernes Nirgendwo für Menschen, die auf ihren Migrationswegen aus der Masse der Reisenden ausgesondert worden sind. In einer solchen Situation inszeniert der iranische Regisseur Amir Reza Koohestani Anna Seghers Exildrama „Transit“. Allerdings ist von der Geschichte rund um das zentrale Figurenquartett nur Fragmente geblieben. Keine Treffen in den Cafés und Hotels in Marseille, kein Exilantencharme rund um die Cannebière, Marseilles legendärem Boulevard zum alten Hafen. Gemein mit der berühmten Romanvorlage ist allenfalls der Kampf um Reisepapiere, um Visa.

– “You are responsible for your visa.
– How can I be responsible … no one noticed the wrong visa, not the embassy, not even at the airport…
– They can make mistakes, they probably process fifty visa a day.”

Da ist eine Reisende mit einer Beamtin in einem allmählich eskalierenden Streit um die Gültigkeit von Schengen-Visa. Amir Reza Koohestani verschränkt hier eine zeitgenössische Flughafen-Situation mit der Geflüchtetengeschichte im Südfrankreich der Nazi-Zeit. Der aktuelle Handlungsstrang entspringt einer persönlichen Erfahrung des international erfolgreichen Regisseurs. Er war 2018 in München bei der Passkontrolle auf seiner Reise nach Santiago de Chile verhaftet und stundenlang in einem Warteraum mit Geflüchteten festgehalten worden, Menschen, deren Asylanträge abgelehnt worden sind, Menschen, die auf Abschiebelisten stehen. Ein tief empfundener Schock, sagte der Regisseur: Das Schicksal, das der Künstler allenfalls aus poetischer, künstlerischer Behandlung kennt, erreicht ihn nun selbst physisch und real. Die Frage nach dem Sinn seiner Theaterarbeit stellte sich ihm plötzlich.

 

Foto: Christophe Raynaud de Lage

Koohestani, der wie viele Regisseurinnen und Regisseure gerne die physische Präsenz seines kleinen Ensembles im Video doppelt, schafft hier stimmungsstarke Bilder, in dem er das digitale Abbild mit dem physischen Körper auf der Bühne in Blickachsen ordnet und mit einer leichten Unschärfe zum Schatten des Geschehens macht. Das Virtuelle ist hier einmal nicht simple Dopplung, sondern Teil eines kohärenten Gesamtbildes. Fusion statt Kollage. So schön ist das selten zu sehen. Zugleich ist Koohestanis „En Transit“ dramaturgisch allenfalls ein Thema mit Variationen. Eine bedrückende Meditation, die aber zugleich wenig vom realen Elend der Transiträume vermittelt, in denen aus Menschen mit individuellen Schicksalen Ansammlungen von Unerwünschten werden. Ein Stück eher zum Nachdenken, und weniger zum Mitfühlen.

„Lass und einen Tee trinken…“

Ein ungleich zupackenderes, expressives und exzessives Spiel zeigt das Thalia-Ensemble bei seinem Gastspiel von „Der Schwarze Mönch“ nach Anton Tschechows Erzählung. Ein entzündetes Stadtgehirn sucht auf dem Land Erholung bei Anverwandten und trifft unvermittelt auf ein mephistophelisches Genialitätsversprechen. Das hatte im Januar in Hamburg Premiere. Hier ist also allenfalls zu vermelden, dass der heftige Mistral, der in den Eröffnungstagen durch Avignon fegt, Plakate von den Wänden und Brotkörbchen von den Restauranttischen fegt, dass dieser unbändige Windgeist den Premierenabend als ungefragter Nebendarsteller heftig bereichert hat. Man fühlte sich wie bei einer Schiffsreise auf offener See und mit ungewissem Ausgang. Bühnennebel verwirbelt, plastikplanenbedeckte Gewächshäuser flattern um ihr Leben. Es faucht und rauscht und das lässt ahnen, dass das hier verhandelte Menschenprojekt der Einhegung der äußeren und inneren Natur durch Gartenarbeit scheitern muss. Aber auch, dass alles exzessive Gehirnrauschen von der Natur in den Schatten gestellt wird. Das „ganz Andere“ hat in Avignon noch nie so schön mitgespielt. Serebrennikov nutzt die Papstpalastfassade klug für düstere Videoprojektionen. Beim Schlussapplaus flammt da knallrot und ganz groß „Stop War“ auf. Eine Beruhigung für alle, die durch Presseberichte aufgeschreckt worden waren, die nahe legten, der exilierte Russe Serebrennikov sei unter anderem ob seiner engen Kontakte zum Oligarchen und Filmfinancier Roman Abramowitsch doch nicht der lupenreine Kremlkritiker, als der er immer gesehen worden ist. Oliver Py sagte bei der Eröffnungspressekonferenz lediglich, als er die Aufführung eingeladen habe, sei es eine Arbeit von Kirill Serebrennikov gewesen und jetzt sei es plötzlich die Arbeit eines Russen. Aber auf Cancel-Culture-Debatten will sich Avignon von vorn herein nicht einlassen.