Festival in Avignon
Versuche der Befreiung
von Eberhard Spreng
„Tausendundeine Nacht“ ist für die kapvertische Choreografin Marlene Monteire Freitas ein Überlebensprojekt. „Nôt“ im Papstpalast ist am Eröffnungsabend zu sehen. Am Tage standen aber schon zwei weitere Arbeiten auf dem Programm: Thomas Ostermeier inszeniert Ibsens „Die Wildente“ und der libanesische Choreograph Ali Chahrour gastiert mit „When I saw the sea“.
Deutschlandfunk, Kultur Heute – 06.07.2025 → Beitrag hören
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Kafala heißt ein System, das z.B. im Libanon mittellose und sozial isolierte Frauen etwa als Hausangestellte ihrer Persönlichkeitsrechte beraubt. Es verpflichtet sie zu vollständiger Ergebenheit ihren Schutzherren gegenüber und zum Versicht auf ein Privatleben. Mit dreien dieser jungen Frauen aus dem Libanon und Äthiopien hat der libanesische Choreograph Ali Charrour „When I saw the sea“ inszeniert.
Das Gastspiel eröffnete das Festival in Avignon. Es gibt, unterstützt durch eine Musikerin und einen Musiker, den drei Frauen ihre Stimme zurück, erzählt von ihrer Leidenserfahrung. Chahrour inszeniert ein Ritual, in dem Musik und Kunst die Befreiung vom Joch der modernen Leibeigenschaft betreiben sollen.
Eine betörende Musik bringt die Entrechteten zurück in den Genuss ihrer poetischen Traditionen, setzt sie wieder ein in die Herrschaft über ihren Körper. Wie Chahrour die Kunst, Musik und Tanz feiert dann doch auch ihre Grenzen auslotet, ist ein ergreifendes Dokument der Befreiung als riskanter und offener Prozess.
Bei Thomas Ostermeier muss das mit der Wildente krachend scheitern. Mit diesem Ibsen will der Regisseur an den großen Festivalerfolg von „Ein Volksfeind“ anknüpfen, mit dem er vom 13 Jahren in Avignon gefeiert wurde. Damals machte ein Badearzt gegen den Widerstand seiner Kommune eine ökologische Katastrophe publik. Das war Wahrheitssuche positiv. Diesmal soll es um die schädlichen Folgen der Wahrheitssuche gehen. Denn in der Wildente bringt die Aufklärung der familiären Vorgeschichte nur Unheil über die Familie Ekdal. Sie steht unter der ziemlich willkürlichen Herrschaft des skrupellosen Geschäftemachers Konsul Werle. Das ist Gregers Werles Vater; mit ihm rechnet Marcel Kohler zu Beginn der Aufführung in einen schicken Art-Deko-Salon ab.
„Du hast doch nie das geringste Interesse für mich gehabt, egal wie sehr ich mich darum bemüht habe. Du warst ja zu beschäftigt mit deinen ganzen Frauengeschichten und deinen halbseidenen Geschäften.“

Gregers Werle ist nur ein Opfer der väterlichen Skrupellosigkeit. Die anderen sind die Ekdals. Sie hausen auf der anderen Seite der Drehbühne in einer ärmlichen Atelier-Wohnung, in die Greges Werle als Untermieter ein Zimmer bezieht. Nicht nur das Gerümpel, mit dem der Spielraum möbliert ist, erinnert an die 1970er Jahre. Hier haust man gemeinsam, streitet sich, träumt seine kleinen Träume vom gerechteren Leben und wird Opfer von Gregers Werles Angriff auf die Lebenslügen. Eine Familie ist das nicht, eher eine WG. Zu Ibsens Wildente passt dieses Setting nur bedingt, denn nun versteht man überhaupt nicht mehr, was die Figuren da eigentlich verhandeln.
In demselben Theaterraum, in dem vor dreizehn Jahren mit dem Volksfeind die Luft brannte, als David Ruhland mitten in der Aufführung eine öffentliche Polit-Debatte losbrach, herrscht nunmehr müde Beteiligung bei der Frage, ob nicht alle im Publikum einmal die Partnerin oder den Partner mal belogen haben.
„Ich möchte sie einladen, ihrer Parnerin oder ihrem Partner die Lüge zu gestehen und ihn um Verzeihung bitten…“
Das Spiel changiert zwischen psychologischem Realismus und karikaturaler Überzeichnung. Das Ergebnis sieht aus wie eine schon längst überwunden geglaubte Kammerspielästhetik, ohne jedes Video und ohne Mikroports, akustisch schwer zu verstehen, puristisch, wie altes, verstaubtes Theater.

Am Ende der Wildente ist keiner befreit, sondern alle sind entweder tot oder verzweifelt. Bei Marlene Monteiro Freitas, die am späten Abend im Papstpalast mit „Nôt“ sehr frei über Tausendundeiner Nacht meditiert, ist weder Scheherazade von der Todesgefahr noch König Schahriyar von seiner paranoiden Neurose befreit. Die Choreografin, die künftig das Schicksal der Berliner Volksbühne im artistic board mitentscheiden soll, befreit sich aus der alten Geschichte und ihren Figuren, nimmt sie allenfalls als Anstoß für eine lose Bildfolge voller burlesker, grotesker und karnevalesker Findungen. Sie provoziert mutwillig, stanzt zu schrillen Sounds von Stravinski bis Nick Cave, zu erratisch aufflackerndem Scheinwerflicht, puppenhafte Bewegungsmuster auf die Bühne, zeigt Figuren, die ihr Menschsein abgestreift haben.
Die Befreiung, wenn es sie denn überhaupt gibt, wäre mit Freitas eine radikale Abkehr vom Korsett der Bedeutungen, ein Tanztheater als bewegte Installation, die nichts so sehr scheut, wie Festlegung auf narrative Streams.