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Festival in Avignon
Dreieck der Awareness
von Eberhard Spreng

Auf seiner Abschlusspressekonferenz konnte der neue Festivaldirektor Tiago Rodrigues eine sehr positive Statistik seines ersten Festival d’Avignon verkünden. Mit 94% Platzauslastung ist es hervorragend besucht worden. Ist der Start also rundum gelungen?

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 26.07.2023 → Beitrag hören

Tiago Rodrigues. Foto: Christophe Raynaud de Lage

Mit einer versöhnlichen Note beendete der neue Chef Tiago Rodrigues sein erstes Festival d’Avignon im Ehrenhof des Papstpalastes. Sein meistgespieltes und weitgereistes „By Heart“ versammelt zehn vor allem weibliche Zuschauer auf der Bühne. Diese lernen 14 Zeilen eines Shakespeare-Sonetts auswendig, Rodrigues erzählt von diesem Verfahren des Memorierens. Das sei der sicherste Weg zum Schutz der Literatur vor der Zensur und Vernichtung durch Unterdrückungsregime. Was gedruckt wird, kann verbrannt werden. Was im Gehirn verbleibt, ist dem Zugriff der Diktatorinnen und Diktatoren entzogen. Der portugiesische Schauspieler, Regisseur und Theaterleiter wollte in seinem ersten Avignon-Jahr nicht mit einer eigenen neuen Produktion in Erscheinung treten, sondern sich zunächst als Programmmacher profilieren. Er tut dies mit neuen Namen.

„Avignon steht für Entdeckungen: Drei Viertel der Künstlerinnen und Künstler in diesem Jahr waren noch nie im Avignon-Programm. Natürlich sind viele von ihnen mit großen zeitgeschichtlichen Fragen beschäftigt. Das Festival d’Avignon hat nun mal in seiner DNA eine politische Dimension.“

In dem großen Dreieck aus Sexismus, Rassismus und Klassismus haben vor allem Regisseurinnen das Zusammenwirken von Diskriminierungserfahrungen untersucht: Die indigene Kanadierin Émile Monnet erinnerte an Marguerite Duplessis, die wohl erste indigene Sklavin des damaligen Neufrankreich, die 1740 mit einer Petition vor Gericht gegen ihre Unfreiheit klagte. Anders das Skandalstück „Carte Noir nommée Désir“ von Rebecca Chaillon, der schwarzen Französin karibischen Ursprungs. Es spaltete das Publikum. In der Folge kam es zu verbalen und physischen Angriffen auf die Performerinnen, die der Festivaldirektor scharf verurteilt.

„Es ist während der Aufführungsserie zu verbalen und physischen Angriffen gekommen, im Saal und auf den Straßen in Avignon. Wir haben sofort die Sicherheit im Saal verändert, um das möglichst zu verhindern. Mir ist wichtig, die volle Solidarität mit der Theatertruppe zu betonen. Die Produktion entspricht absolut dem Geist und den Werten des Festivals.“

Was war geschehen? In einer regelrecht provozierend frechen Performance rechnete Rébecca Chaillon mit dem von Rassismus und Kolonialismus geprägten Bild der schwarzen Frau ab. „Carte Noire Nommée Désir“ ist das Gründungsstück für einen queeren Afrofeminismus. Es bleiben Fragen: Wird angegriffen, wer die Opferrolle verlässt und die rassistische Übergriffigkeit offensiv ins Publikum zurückspiegelt? Wer schwarz ist, weiblich und angriffslustig? Hatte die extreme Rechte hier mit ein paar Aktivisten die Finger im Spiel? „Carte Noir nommée désir“ stieß auf ein politisiertes Festivalpublikum, das ansonsten mit standing ovations alle Gastspiele belohnte, die irgendwie menschenrechtliche Fragen berühren: So wurde Milo Raus „Antigone in the Amazon“, das bei seiner Genter Uraufführung mit höflicher Distanz aufgenommen wurde, in Avignon gefeiert. Festivalchef Tiago Rodrigues, dessen Gastspiel „Dans la Mésure de l’Impossible“ die Erfahrungen von Hilfsorganisationen wie „Médecins sans Frontières“ schildert, wurde begeistert beklatscht, obwohl da ein mittelmäßiges Ensemble in einem einförmigen szenischen Setting agiert. Das Festival, das mit einer Hommage für den von zwei Polizeikugeln getöteten Nahel begann und mit rassistischer Aggression endete, blieb immer nervös politisch.

„Der Geist des Festival d’Avignon ist geprägt vom Eintreten für künstlerische Freiheiten und von der Idee eines théâtre populaire, eines für die gesamte Bevölkerung zugänglichen Raums der Kunst. Ich glaube das ist heute sogar noch wichtiger als 1947, als Jean Vilar das Festival ins Leben rief.“

Eine Pause vom Zeitgeschichtlichen boten viele der vierzehn Gastspiele im diesjährigen englischen Sprachschwerpunkt. Die schönste Geschichte erzählte das Royal Court Theater in einem Monolog aus der Feder des Alistair McDowall: In „all of it“ brabbelt sich die Sprache eines Baby ins Leben, nimmt Formen an, bildet in stereotypen Lautwiderholungen den Trott des Alltags ab, strömt dahin wie ein Menschenleben mit seinen Highlights und Katastrophen und kann auch im Tod nicht enden. Ein vierzigminütiger Bewusstseinsstrom. Und Theater als Sog. Und natürlich bleibt neben der neuen Arbeit der Choreografin Anne Teresa de Keersmaeker auch ein Meteor in Erinnerung, der gleich am Anfang hell aufleuchtete. Philippe Quesnes „Le Jardin des Délices“, wo eine kleine Menschheit, wie gestrandet nach der Apokalypse, im kargen Exil eines Steinbruchs ankommt. Ihr Sprechen: behutsam, rücksichtsvoll, geduldig. Und dieser Ton scheint plötzlich in seiner ganzen Zeitentrücktheit das politischste Statement des Festivals zu sein, das sich doch vorgenommen hatte, unsere Zerbrechlichkeit zum Leitmotiv zu machen.