Constanza Macras inszeniert The Hunger über Inzest und Kannibalismus

Constanza Macras inszeniert
Verzehr Dich selbst!
Von Eberhard Spreng

Die in Buenos Aires geborene Constanza Macras ist mit ihren Arbeiten für die krisengeschüttelte Volksbühne in Berlin zu einer verlässlichen künstlerische Größe geworden. Jetzt hat sie dort „The Hunger“ entwickelt und da geht es um Inzest und Kannibalismus vom indigenen Südamerika bis in die sozialen Netzwerke.

Deutschlandfunk, Kultur Heute, 20.09.2024 → Beitrag hören

Foto: Thomas Aurin

Huch, ist das bunt hier, und exotisch, und laut und orgiastisch! Mit stieren Kinderaugen staunt die queere Person Steph Quinci in eine fremde Welt voller Transgressionen, kannibalischer und sexueller Exzesse. Als Schiffsjunge auf einem spanischen Konquistadoren-Schiff ist er auf dem südamerikanischen Kontinent gelandet, wo ein indigener Stamm die gesamte Mannschaft tötete und nur ihn am Leben ließ.

“Suddenly arrows started raining all over ands the captain and all 37 crew-members were killed, everybody was dead, except me.”

Von langen barocken Löckchen eingerahmt schaut er uns auf dem Video direkt ins Gesicht, während um ihr herum das Tanzensemble in neckisch-ironischen Posen und eher angewidert und bekleidet Gruppensex mimt. Ein argentinischer Roman der 1980er Jahre von Juan José Saer hatte von zyklisch auftretenden kannibalischen Ritualen erzählt, denen Sex-Orgien und schließlich lange Phasen melancholischer Prüderie folgten. Diese merkwürdige Literatur ist Anlass für Constanza Makras Abend ebenso wie eine Schrift des Sigmund Freud. In „Totem und Tabu“ sprach der Gründer der Psychoanalyse von einem wilden, inzestuösen Urzustand, bei dem einer übermächtigen Vaterfigur alle Frauen zur Verfügung standen. Die Söhne beendeten dies im Vatermord, verzehren den Erzeuger, bevor dieser als Totem wiederaufersteht und hinfort als Symbol darüber wacht, dass die Stammesgemeinschaft nicht in alte Zeiten zurückfällt. Inzest und Kannibalismus sollen für immer zum Tabu werden. Offenbar erfolglos, denn Constanza Macras sieht eine unausgesetzte Macht des Inzestiösen am Werke, zitiert hierfür unter anderem das Beispiel der Habsburger. Das Kannibalische zeigt sich für die Choreografin ganz hochmodern in der KI: Sie infiziere sich an ihren eigenen Fehlern und werde immer dümmer. Auch Volksbühnen-Schauspielerin Anne Ratte-Polle steuert Maßgebliches zum hochfliegenden Themen-und Gedenkenmix des Abends bei:

„Dinge und Rituale haben eine stabilisierende Wirkung auf den Menschen und verleihen ihm Identität.“

Dieser maß- und kulturstiftenden Bemerkung folgen indessen ultrazeitgenössische Instagram-Videos. Sie zeigen vor allem junge Frauen beim Rekord-Verzehr von Nahrungsmitteln, dessen Exzess auch schon mal in den Tod führen kann. Das soll vermutlich bedeuten, dass die einstige Stabilität, die Objekt, Tabu und Ritual boten, im Flow der Social-Media-Orgien auf immer verloren gehen. Weltaneignung durch obsessiven Verzehr erzählt uns da die Leinwand, während der physische Menschenkörper auf der Bühne in immer neuen Gruppenbildern und immer anderen Kostümen mit ungeheurer Vitalität begeistert. Diskurs und Körper, Weltzustand und Mensch weisen in Constanza Makras „ The Hunger“ in divergierende Richtungen.

Foto: Thomas Aurin

Am Ende bewegt sich das Ensemble zum schnellen, synkopisch durchzuckten Beat mit langsamen, weichen Bewegungen und behauptet den kreatürlichen, inneren Widerstand gegen das hektische Anbranden der äußeren Welt.

Das ist ein bleibender Moment in einer Aufführung mit weitgehend rätselhafter Bilderwelt: Ein fahrbarer Bühneaufbau ist Zuschauertribüne auf der einen, und natürlicher Abhang auf der anderen Seite. Ein gläserner Turm mit Treppenaufgängen steht weitgehend nutzlos auf der Bühne herum, ein großer Rundhorizont schiebt sich immer wieder ins Bild: Eine gewaltige Felsenlandschaft mit futuristischen Behausungen, eine Science-Fiction-Welt, die zugleich auf eine längst vergessene Vergangenheit verweisen könnte. Ganz zu Beginn hatte man das Ensemble als spanische Konquistadoren mit ihren typischen Helmen nicht auf einer Galeone, sondern auf einer Felsplatte auf die Bühne gerollt, so als wäre der Kulturschock, die Eroberung, Mord, Unterdrückung, und Ausbeutung des indigenen Südamerika ein geologisches Ereignis, eine Verschiebung tektonischer Platten. Das ist eine der wenigen Bildfindungen. Der Rest sind vor allem Illustrationen für einen Gedankenfluss in Andeutungen, der immer wieder fischig wegflutscht, wenn man meint, ihn zu fassen zu bekommen. „The Hunger“ ist vor allem Show-Biz und wird der Volksbühne in unsicheren Zeiten einen großen Publikumserfolg bescheren.