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Untergangsspektakel in Leipzig
Die Ratten übernehmen das sinkende Schiff
von Eberhard Spreng

Der 1986 erschienene Roman „Die Rättin“ von Günter Grass ist eine ökologische Apokalypse in multiperspektivischer Erzählung. Die Theaterversion hat Claudia Bauer nun am Schauspiel Leipzig vorgestellt

Deutschlandfunk, Kultur Heute  – 09.10.2021 → Beitrag hören

Foto: Rolf Arnold

Auf der leeren Bühne des Leipziger Schauspiels ragt ein Hochsitz auf. Auf ihn flüchtet sich immer wieder gerne der wohlmöglich letzte verbliebene Vertreter der menschlichen Gattung. Es ist der Ich-Erzähler aus Günter Grass dystopischem Roman „Die Rättin“. Aber beim Erzählen ist er nicht allein, das muss er sich mit einer Rättin teilen. Sie ist die Vertreterin einer Gattung, die zu Beginn mit Posen einer barocken Hofgesellschaft in opulenten, farbenfrohen Kostümen und weit ausgepolsterten Schultern die Bühne bevölkert. Wenig später wird eine dieser Nobelratten ein Orgelpositiv auf die Bühne schieben und eine Chorprobe beginnen. Während noch der Ich-Erzähler um sein Recht auf Zukunft kämpft, hat die Rattengesellschaft auf die Menschheit schon das Requiem aeternam angestimmt.

„Nein nein nein, noch gibt es uns. Noch sind wir zahlreich. Noch haben wir Pläne“

Relativ treu folgt Regisseurin Claudia Bauer einer Romanvorlage, die mit diversen Erzählperspektiven in wilden Zeitsprüngen verschiedenen Handlungsmotiven folgt. Grass hatte Teile seines altbekannten literarischen Figureninventars reaktiviert. So mischt sich nun auch auf der Bühne in den ohnehin aufbrausenden und einmal auch markerschütternden Endzeitsound ein fulminanter Trommelwirbel. Oskar Metzerat tritt auf, natürlich mit vorgeschnallter Trommel, und auch hier, trotz fortgeschrittenen Alters mit der jungenhaften kurzen Hose. Er ist zum Videoproduzenten avanciert und überlegt, wie man einen Film über den Erhalt des Grimmschen Märchenwaldes machen könnte. Dafür kämpfen außer Hänsel und Gretel unter anderen Dornröschen, Rübezahl und Rotkäppchen. Im Stil des expressionistischen Films flammen in Life-Videobildern deren erschreckte Gesichter mit aufgerissenen Augen auf. Während dessen sinken vom Bühnenboden immer mehr dicke Baumstämme herunter, die sich zu einem bedrückenden Bühnenwald verdichten. Wenn der Wald stirbt, dann ist es mit den Menschen zu Ende und dann erwarten ihn, zumindest im opulenten Soundtrack, die Fanfaren des jüngsten Gerichts.

Im Kern von Roman und Theaterfassung steht die Frage nach der Erzählbarkeit einer Welt, die selbst schon in Auflösung begriffen ist und möglicherweise nicht mehr existiert. Grass sagte damals, „dass jenes Buch, das ich zu schreiben vorhabe, nicht mehr so tun kann, als sei ihm Zukunft sicher.“ Die Literatur als Ordnungsmacht kommt an ihr Ende, wenn ein Zusammenhalt all dessen, was sie zu beschreiben vorhat, nicht mehr gegeben ist. Deshalb fasst der große Moralist Grass sein dystopisches Denken über das Ende einer unverbesserlich hyperaktiven Menschheit in eine literarische Form, die ein Vorher und Nachher, Ursache und Wirkung nicht mehr kennt, also nicht mehr all das, was Dramatik ausmacht. Das ist eine Herausforderung für diese Inszenierung, die eigentlich auch nach gut zwei Stunden kaum etwas anderes erzählt, als in den ersten Minuten. Andererseits kann das Theater auf der Bühne bildhaft zusammenfügen, was die Sprache nur nacheinander beschreiben kann. Und so verdichtet sich die romaneske Apokalypse zu einem opulenten Weltfresco. In ihm wirkt der von Tilo Krügel verkörperte Vertreter der Menschheit wie ein Angeklager, dem die Zeit und die Argumente ausgehen. Immer mehr zum Jammern wird seine Rede gegenüber der Erzählkonkurrentin, der Rättin. Und immer wieder strampelt er, wie zum Beweis seiner Lebensenergie, auf einem Laufband in seiner Überlebenskapsel über der Bühne. Mit den paar dort untergebrachten Zimmerpflanzen sieht sein Hochsitz mit den weißen Plastikplanen ein wenig aus wie Matt Damons Weltraumlabor im Ridley Scotts „Der Marsianer“, wo das Überleben des Helden von seinem grünen Händchen abhängt. Vielleicht, so vermutet der Ich-Erzähler, ist er in einer Raumkapsel in der Umlaufbahn um eine verwüstete Erde. Vielleicht ist er oder die Menschheit aber auch nur noch ein Traum der Ratten.

„Also langsam solltest du aber wissen, dass es euch samt deinem Radio nur noch in unseren Träumen gibt: Solange wir und die uns anvertrauten Rattenvölker bereit sind, uns an euch zu erinnern, gibt es menschliches Getriebe, also auch dich, in immer schwächer werdenden Reflexen.“

Vom „Sterben der Wälder“, vom „Anstieg der Meeresspiegel“, ja vom „posthumanen“ Zeitalter ist in der „Rättin“ die Rede. Ziemlich frische Vokabeln in aktuellen Debatten. So kommt es also, dass eine oller, fünfunddreißig Jahre alter Roman auf der Leipziger Bühne wie das Stück der Stunde daherkommt. Allein das ist schon eine vernichtende Bilanz für die Umweltpolitik der vergangenen Jahrzehnte.