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Theater im digitalen Raum
Deka-Monolog
von Eberhard Spreng

Der polnische Filmregisseur Krzysztof Kieślowskis übersetzte am Ende der 1980er Jahre in seiner Fernsehfilmserie „Dekalog“ die zehn Gebote in heutige Schlüsselsituationen. Christopher Rüping überträgt dies in Zürich ins digitale Format: Zehn Monologe nach kurzen, Covid-19 kompatiblen Probenzeiten.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 21.04.2020  → Beitrag hören

Foto: Schauspielhaus Zürich

„Dekalog ist ein Format für die Neugierigen, für die Schatzsucher und für die Fans der Unvollkommenen, für all diejenigen, die es genießen, vom Anfang an dabei zu sein und Ideen zu begleiten, wenn sie Schritt für Schritt ihren Kinderschuhen entwachsen.“

Das sagt Regisseur Christopher Rüping, lässig in einen Zuschauersitz des ansonsten leeren Zürcher Theaters gelehnt. Die kleine Dekolog-Equipe hat sich ein vollmundiges Manifest ausgedacht und eine der zentralen Regeln besagt: Nicht mehr als zehn Stunden Proben für jeden dieser Monologe. Es sind sehr freie Bearbeitungen der Kieślowskischen Geschichten. Den Anfang macht, gespielt von Thomas Wodianka, ein alleinerziehender Vater in einer winterlichen Wohnsiedlung. Ganz in der Nähe soll es einen großen Teich geben, auf dessen Eis sein achtjähriger Sohn Paul gerne seine neuen Schlittschuhe ausprobieren würde. In einem blassblauen Kubus liegen sie, nichts gutes verheißend, auf dem Boden.

Ob Paul aufs Eis darf oder nicht, wird zur Frage über Leben und Tod und diese Frage unterwirft der zweifelnde Vater letztlich dem Glauben in seine mathematischen Berechnungen über Temperaturen, Größe der Fläche, Dauer des Frostes. „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“ heißt das erste der Gebote und Mathematik ist in Kieślowskis Setting Gottes Konkurrent im Wettstreit der Letztbegründungen. In Zürich wird daraus ein Hallraum für mediale Zitate: Eines entstammt dem Mystery-Film „The Dead Zone“. „Chrisopher Walken sagt in dem Film ‚The Ice is gonna break – The Ice is gonna break’ kennt ihr den Film, wie heißt der?“

Während sich das Publikum in einem Lifechat über die Entscheidungsfindung des Vaters austauschen darf, bittet der auch noch seine Sprach-App um Entscheidungshilfe, aber auch der zeitgenössische, digitale Gottesersatz lässt sich zu einer verlässlichen Auskunft nicht hinreißen: „Despite my vast intelligence, I’m unable to predict the future. What do you think?”

Die Mehrheit der isolierten Zuschauer im digitalen Raum empfiehlt dem Vater, seinem Sohn die Schlittschuhfahrt auf dem Eis zu erlauben. So geht das Unheil seinen Gang. Kieślowskis Erzählung findet auch in diesem digitalen Theaterraum ihr fatales Ende.

Das ist im zweiten, nur etwa 35 minütigen Teil nicht der Fall, wenn Karin Pfammatter im nun leicht rosé beleuchteten White Cube zunächst mit weißem Wattebart Gottvater performt. Dann wird sie zur Ärztin, die die Heilungschance eines Krebskranken vorhersagen soll. Dessen Frau Dorota ist schwanger von einem anderen Mann. „Es gibt nichts schlimmeres für Dorota als die Vorstellung, dass Roman überlebt, nur um feststellen zu müssen, das sie ihn betrogen hat und das Kind von einen andere unterm Herzen trägt. Für Ausrutscher ist in ihrer Liebe kein Platz und für das Kind von einem anderen erst recht nicht.“

Die Leiterin der Onkologie im örtlichen Krankenhaus soll hier also in einer ansonsten glücklichen, aber kinderlosen Ehe Entscheidungshilfe leisten, denn Dorota würde das uneheliche Kind abtreiben, sollte ihr Mann genesen. „Soll ich bei der Wahrheit bleiben und Dorota sagen, dass ich nicht weiß, ob ihr Mann sterben wird, dann bricht sie die Schwangerschaft ab. Oder soll ich lügen und Dorota sagen, dass ihr Mann auf jeden Fall sterben wird, dann behält sie ihr Kind, was würden sie an meiner Stelle tun?“

64 Prozent der Internet-Zuschauergemeinde entscheidet sich für die Wahrheit und wirft Kieslowskis Filmvorlage damit aus ihrer narrativen Bahn: Traurig-lakonisch erzählt die Akteurin nun von dem Ende einer Ehe. Karin Pfammatter erzielt in dem ersten Zyklus der nach und nach entstehenden Reihe die beste Spielbalance für das Agieren vor einer sehr nahe stehenden Kamera. Thomas Wodianka und, im dritten Teil, Alisa Aumüller performen ihre Figuren geradezu offensiv; da ist keine Chance für Schatten, Rätsel oder Komplexität.

Theaterspielen in Großaufnahme funktioniert im mittlerweile videoerprobten Schauspiel eigentlich nur, weil das Leinwandbild Teil der großen Bühne ist und von deren physischer Präsenz gebrochen und konterkariert wird. Hier aber springen die hellausgeleuchteten Gesichter geradezu aus dem Computerbildschirm heraus und verkehren die Energierichtung in der Aufmerksamkeitsökonomie zwischen Zuschauenden und Spielenden. Andererseits fehlt den Befragungen und Abstimmungen jedes gruppendynamische oder kollektive Erleben. Mensch drückt einsam auf eine von zwei Schaltflächen und entnimmt den eingeblendeten Balkendiagrammen in Echtzeit, dass das wohl auch viele andere gerade getan haben müssen, die man nicht kennt, nicht sieht. Das generiert nicht die Spur einer Zusammengehörigkeit und ist nichts weiter als eine technische Addition unverbundener Einzelwesen. Und so erzeugt auch der Beginn dieses digitalen Experiments zunächst vor allem den Schmerz über das Fehlen des Theaters als Raum geteilter Erfahrung.