Autobiografisches am Odéon-Theater in Paris
Dem grauen Himmel so nah
von Eberhard Spreng
Der 1970 geborene Regisseur und Schriftsteller Christophe Honoré ist vor allem als Filmregisseur international erfolgreich. Aber er schrieb immer wieder auch Theaterstücke und inszenierte Theater und Opern. Autobiografisch ist sein Stück „Le Ciel de Nantes“. Ein Versuch, die Geschichte der Familie seiner Mutter über mehrere Generationen zu erzählen.
Deutschlandfunk, Kultur Heute – 10.03.2022 → Beitrag hören
Ein Lichtspieltheater mit roter Bestuhlung, im Hintergrund eine Wand mit den Luken für die Projektoren. Wir blicken also in einen alten Kinosaal mit einer Handvoll Menschen, die auf den Beginn der Vorstellung warten. Im Publikum sitzt auch der Regisseur selbst, der einen Film über seine eigene Familie plant – und ihn nun den Familienmitgliedern vorstellen möchte.
Der Film über die Familie, so dachte der junge Cineast, müsse mit dem Bombardement der Stadt Nantes durch die alliierten Truppen im Jahre 1943 beginnen. Aber schon bei dieser Ankündigung regt sich Widerspruch aus dem Familienpublikum, in dem sich drei Generationen versammeln, unter ihnen viele längst Verstorbene. Zum siebenköpfigen Ensemble gehört auch die aus Christophe Honorés Filmen bekannte Schauspielerin Chiara Mastroianni. Wie soll sich Kunst erinnern, welche sind die Schlüsselerlebnisse beim Erzählen einer von Tragödien verdüsterter Familienchronik? Und wie spricht der zeitgenössische Künstler mit mittlerweile verstorbenen Angehörigen über Geschichte? Wer hat die Deutungsmacht und die Erzählhoheit: Beutet der Künstler die Biographien seiner Vorfahren ungebührlich aus? Alle diese Fragen stellt der aus Theater, Oper und vor allem dem französischen Kino bekannte Regisseur und Autor Christophe Honoré in seinem Stück: „Le Ciel de Nantes“. Der Titel löst in Frankreich starke Assoziationen aus, denn „Nantes“ hieß ein berühmtes autobiografisches Chanson von Barbara, mit dessen Akkorden der Theaterabend im Odéon poetisch-melancholisch beginnt. Darin schilderte die Sängerin eine Reise ins regenverhangene Nantes zu ihrem sterbenden Vater, zu dem sie eine sehr problematische Beziehung hatte. Barbara kam zu spät, den Vater sah sie nicht mehr lebend. Ein verpasstes Rendez-Vous, das sich nie mehr nachholen läßt. Ein verpasstes Rendez-vous, das sich nie mehr nachholen lässt. All das weiß das französische Publikum natürlich und so liegt eine traurige Vorahnung über dem Versuch des Filmkünstlers Honoré, zur Vergangenheit aufzuschließen, in der Vielfalt der Geschichten so etwas wie den Geist einer Epoche zu erhaschen, die erfundene Kunst und das wirkliche Leben zueinander zu bringen.
„Je me suis enfermé dans les chiottes et bam ! voilà. Tu vois c’est comme ça que devrait être ton film, Christophe, simple et net.“
Da ist der Selbstmord von Maurice, der erste Mann der Großmutter. Ein Zocker, der das Geld der Verwandten verspielte und seiner Vaterrolle nicht gerecht wurde. Entgegen einer poetischen Bildidee, die der Cineast vorstellt, plädiert Maurice für einen brutalen direkten Realismus, mit dem sein Selbstmord erzählt werden müsste. Immer wieder stehen die Akteurinnen und Akteure von ihren Kinosesseln auf und skizzieren Szenen aus der Vergangenheit. Gelegentlich fährt eine Leinwand von oben herab, auf der einige Probeshots zu sehen sind, Testaufnahmen mit möglichen Schauspielerinnen und Schauspielern. Denn der Film über die Familie ist bislang nur ein Projekt. Geeignet scheinen die Skizzen und Ideen des Regisseurs den Familienangehörigen allesamt nicht. Sie träumen von Besetzungen mit Schauspielern wie Pierre Brasseur und anderen Leinwandstars längst vergangener Jahrzehnte. Und immer wieder auch flammt das Gefühl auf, das eigene kleine Leben in der französischen Unterschicht sei grundsätzlich nicht fürs große Kino geeignet. Und doch wird gesungen und getanzt, heften sich Lebensgefühle an Musik.
Am Ende ist in Christophe Honorés biografischem Werk nicht Filmkunst die Ordnungsmacht für die verstreuten Erzählungen. Sie bekommt das bunte, chaotische, schmerzvolle Leben in seiner ganzen Widersprüchlichkeit nicht als Ganzes zu fassen. Im Schlusswort offenbart der Künstler, dass er die Familie letztlich mehr brauche als die Kunst. Solche Rührseligkeiten verfangen in einem Land wie Frankreich, das der Familie und ihren Ritualen traditionell eine privilegierte Rolle zumisst. Aber gibt es eine Familiengeschichte überhaupt oder erfindet sich jede Generation diese Geschichte aufs Neue? Diese Frage wird nur am Rande berührt. Wie sehr also Menschen aus unterschiedlichen Generationen Kinder ihrer jeweiligen Epochen sind und wie schlecht sie sich deshalb letztlich untereinander überhaupt verständigen können, das erzählt Honorés Suche nach der verlorenen Zeit nicht.