Christoph-Marthaler-Uebermann-oder-die Liebe-kommt-zu-Besuch

Christoph Marthaler in Hamburg
Pataphysische Melancholie
von Eberhard Spreng

Bayrischer Rundfunk, Kulturwelt – 19.03.2018

Alfred Jarry, Autor des weltbekannten König Ubu, ist Erfinder einer privaten Nonsense-Wissenschaft: Der „Pataphysik“. Christoph Marthaler lässt sich von ihr am Hamburger Schauspielhaus für seinen „Übermann oder die Liebe kommt zu Besuch“ inspirieren: Der Mensch in kosmischer Einsamkeit. Zu hören sind zahlreiche sinnlose Texte und viel gefühlvolle Musik.

Ein Frauenensemble mit Mann auf der Zeitmaschine
Gala Othero Winter, Isabel Gehweiler, Sachiko Hara, Rosemary Hardy, Sasha Rau, Altea Garrido, Anja Lais, Bettina Stucky. Hinten: Clemens Sienknecht, Marc Bodnar. Foto: Matthias Horn

„Meine Damen und Herren: Aufgrund unerwarteter Ereignisse muss an diesem Punkt des Abends der angekündigte Titel „Übermann oder die Liebe kommt zu Besuch“ leider vollständig eliminiert werden.“ Die Aufführung im Hamburger Schauspielhaus hatte gerade erst begonnen, das Licht war ausgefallen und nach einigen Augenblicken, notstrombetrieben, wieder angegangen und schon verkündete eine Computerstimme die Änderung des Titels. Ein plötzlicher Sonnenwind habe die Erdatmosphäre so stark getroffen, dass die Konferenz, zu der sich ein Handvoll Wissenschaftler gerade erst zusammen gefunden hatte, aufgrund der veränderten elektromagnetischen Verhältnisse obsolet sei. Über „Lust, Liebe und Geschlechterdifferenz in Zeiten elektromagnetisch gesteuerter Kommunikationsprozesse“ braucht nicht mehr gesprochen werden, wenn es keinen Strom mehr gibt. Alles weitere ist also, so ganz getreu der sogenannten Pataphysik eines Alfred Jarry, nicht mehr den üblichen Motiven und Letztbegründungen unterworfen. Der berühmte Autor des König Ubu hatte sich mit dem absurdistischen Wissenschaftskonzept der Pataphysik eine Parallelwelt erobert, von der das Programmheft behauptet, sie sei Anstoß für Christoph Marthalers neue Arbeit gewesen. Und in der wird natürlich auch wieder viel gesungen:

„Dans un sommeil que charmait ton image
Je rêvais le bonheur, ardent mirage“

Maschine für den Ausstieg aus dem Raum-Zeit-Kontinuum

Aus den „Trois Mélodies“ von Gabriel Fauré singt Rosemary Hardy das  bittersüße „Après un Rêve“, eine verführerische Träumerei mit trauriger Rückkehr in die Wirklichkeit. Marthalers pataphysischer Abend hat aber auch einen spirituellen König, der erklärt, wie mit einer Maschine aus dem Raum-Zeit-Kontinuum ausgestiegen werden kann und die ähnelt sehr einem Fahrrad, dessen Hinterrad in einen Rahmen gespannt wird und auf dem Marc Bodnar wie wild herumtrampelt, bis im Leerlauf der blitzenden Speichen wirklich für Momente eine Metapher für das Zusammenfallen von Bewegung und Stillstand erreicht ist. Clemens Sienknecht spielt, auf einem immer wieder bedeutungsvoll auf und absteigenden Podest den pataphysischen König. Er ist außerdem, mit Klavier und elektrischer Orgel ausgestattet, oft musikalischer Spielleiter. Recht früh in der Aufführung tupft er mit seinem präparierten Tasteninstrument, mit fast erstickten Saiten, eine tonlose Mondscheinsonate in den weiten Raum des Hamburger Schauspielhauses. Es ist ein eher stiller Abend, mit vielen Momenten einer durch Entzücken erhellten Melancholie, mit Nonsense-Texten von sehr unterschiedlicher Qualität, in denen die absurden Gedankenverläufe die Aufmerksamkeit immer wechselnd anziehen und abstoßen. „Hallo Konservendose, du bist eine Blechbüchse mit der Aufschrift Schnittbohnen. Sicher wunderst du dich dass ich dir überhaupt schreibe aber ich möchte dass du sich jetzt ärgerst.“

Ein Paralleluniversum, in dem die Sprache zerfällt

Der von Bettina Stucky vorgetragene Brief an eine Konservendose gehört zu den eher schwachen Sprachverbiegungen, die der Abend aufbietet. Die Cellistin Isabel Gehweiler steuert eine furiose Improvisation bei, das weitgehend weibliche Ensemble mischt choreographierte Abläufe in die Nonsense-Meditation über das Kontinuierliche und das Fragmentierte, ist ein Chor von Einzelwesen, die das Träumen nicht aufgeben können. Einmal hängen sie über Barhockern mit gesenkten Köpfen und flattern mit den Armen, wie Vögel, die fürs Abheben zu schwer geworden sind. Das Zurückbleiben, das Alleinsein, und mit den Kinks, die Sehnsucht ist die Stimmungsfarbe am Ende der Aufführung.

„I go to sleep sleep. And imagine that you’re there with me“

Anna Viebrock hat für den Abend einen Raum geschaffen, der nur im unteren Bereich mit verschiedenen alten Tapeten auf eine wechselvolle Geschichte verweist und sich nach oben hin ins architektonisch Ungewisse des Rohbaus verliert. Unten lassen sich einige lange Theken herein- und herausschieben, nach oben führt eine schmale Treppe. Ganz oben ist aber auch ein Fenster mit zerborstenen Scheiben und da ist ganz lang ein Gesicht zu sehen. Der pataphysische Gott guckt zu und wundert sich. Marthalers Exkursion ins Absurde hinterlässt Weltwehmut aber auch Zweifel und viele offenen Fragen.