Caroline Guiela Nguyen inszeniert ihr Stück Lacrima bei den Wiener Festwochen

Uraufführung bei den Wiener Festwochen
Perlen wie Tränen
von Eberhard Spreng

Eine englische Prinzessin beauftragt ein Pariser Modehaus mit der Herstellung ihres Hochzeitskleides. Dieser schlichte Plot ist Grundlage für das Stück „Lacrima“ der Autorin und Regisseurin Caroline Guiela Nguyen, das die Wiener Festwochen uraufführten. In Berlin sah man in den Jahren zuvor „Saigon“ und „Fraternité“ von Guiela Nguyen im Rahmen des FIND-Festival an der Schaubühne.

Deutschlandfunk – Kultur Heute, 01.06.2024 → Beitrag hören

Foto: Jean-Louis Fernandez

“Atme!“ Diese Aufforderung ist in der fast dreistündigen Aufführung immer wieder zu hören. Bei der Herstellung eines so aufwändigen Kleidungsstückes wie der Hochzeitrobe der englische Prinzessin mit üppigen Spitzen und Stickereien kommt es immer wieder vor, dass Spitzenklöpplerinnen vor lauter Konzentration zu lange den Atem anhalten. Wenn man so etwas bemerke, solle man der gefährdeten Kollegin sachte die Hand auf die Schulter legen.

« Apnée était si courante … »

Die Apnoe, so erfahren wir, war unter Spitzenklöpplerinnen so verbreitet, dass Herzprobleme entstanden, Venenentzündungen. Auch frühes Erblinden war eine mögliche Folge dieser Arbeit in früheren Zeiten, als das Normandie-Städchen Alençon weltweit bekannt wurde durch seine Dentelle. Ein dort verbliebenes Atelier ist hier Partner des Pariser Modehauses Beliana, das den Auftrag für die Herstellung des Hochzeitskleides für die englische Prinzessin erhalten hat. Ein weiterer Partner ist eine Werkstatt im indischen Mumbai, das, wie wir ebenfalls erfahren, der globale Hotspot für Stickereien ist. Hier soll der riesige Schleier entstehen, in dem 250 Tausend kleine Perlen ein kunstvolles Muster bilden. Und natürlich will der europäische Auftraggeber, dass dies in kürzester Zeit unter Einhaltung von neuen, strengen Arbeitschutzvorgaben geschieht.

“All the beautiful things you have on your catwalks … “
All diese wunderschönen Dinge, die sie auf ihren Laufstegen im Westen vorzeigen, haben unsere Angestellten angefertigt. Sie sind die besten weltweit. Was soll diese neue Vorgabe? fragt der indische Subunternehmer, der sich per Videokonferenz mit seinen europäischen Partnern unterhält. Man könnte Guiela Nguyens „Lacrima“ für ein dokumentartheatrales Stück über Arbeitsbedingungen und globale Ausbeutung im Modebetrieb halten, sähen wir nicht auch all die menschlichen Beziehungen der Akteurinnen und Akteure. Denn das Team um die Pariser Atelierchefin Marion ist eine eingespielte Equipe. Ihr Ehemann gehört dazu, später wird er allerdings nach irren Eifersuchtsanfällen ausgeschlossen. Ihre Tochter ist Hospitantin im Atelier. Nachdem aber mit der englischen Krone strengste Geheimhaltung über die Herstellung vereinbart wurde, muss sie das Atelier verlassen. Caroline Guiela Nguyen war nach der Lektüre eines Berichts über die Herstellung von Lady Di Hochzeitskleid, das von paranoider Geheimhaltung begleitet war, auf diesen Aspekt ihrer Geschichte gestoßen. Die Prinzessin selbst ist lediglich eine Erzählerin aus dem Off:

« C’est l’histoire de cette robe et de son voile que je vais vous raconter ici. »

Gerne begleitet die Regisseurin das Geschehen mit einem melodramatischen Soundtrack und färbt so jeden berührenden Moment mit passenden Klangwelten ein. Und irgendwie sind einem die Figuren mit der Zeit so vertraut geworden, dass Lacrima auch noch länger laufen könnte, wie eine Serie fürs Bingewatchen um eine scheiternde Familie, den Stolz eines indischen Stickers, der über diese Arbeit das Augenlicht verliert, um den ausflippenden Modeschöpfer, der mit dem Kleid sein größtes Kunstwerk schaffen will und eine verdrängte Erbkrankheit, die zwei Generationen später aufgearbeitet werden muss. Und all diese Geschichten schaffen immer wieder so dramatische Krisenmomente, dass man sich auch hier wieder „Atme!“ zuruft.

Sehr kunstvoll verwebt Caroline Guiela Nguyen ihr Rechercheanliegen mit den persönlichen Geschichten. Im Zentrum steht dabei die Pariser Atelierchefin Marion, die alles hintanstellt, um das ehrgeizige Projekt zu verwirklichen. Auch ihre Gesundheit. Ihr Kollaps ist nur eine Frage der Zeit; gleich zweimal erzählt ihn die Aufführung, ganz am Anfang und ganz am Ende. Und sie erzählt von einem alten chinesischen Volksglauben:

« Chaque noeud enferme …
Jeder Knoten enthält die Tränen seiner Epoche“, haucht eine Schauspielerin zu schluchzendem Orchester ins Mikrofon und man ahnt, dass sich im europäische Theater wohl niemand soviel Pathos erlaubt wie Caroline Guiela Nguyen. Ihr „Lacrima“ erzählt nicht von Tränen der Fremdausbeutung, sondern von solchen, die Hingabe an die Arbeit und Selbstausbeutung in einem Prestigeprojekt mit sich bringt.