Carolina-Bianchi-inszeniert-Brotherhood-beim-Kunstenfestival-in-Bruessel

Kunstenfestivaldesarts in Brüssel
500 Seiten Vergewaltigung
von Eberhard Spreng

Vor zwei Jahren machte die brasilianische Performerin und Theaterregisseurin Carolina Bianchi bei der Uraufführung von „A Noiva e o Boa Noite Cinderela“ international Furore. Es geht um Femizide und andere Formen der männlichen Gewalt gegen Frauen. Das war der erste Teil ihrer Trilogie „Cadela Força“, die sie zur Eröffnung des Kunstenfestivaldesart in Brüssel mit „The Brotherhood“ fortsetzt.

Deutschlandfunk, Kultur Heute 10.05.2025 → Beitrag hören

Carolina Bianchi. Foto: Bea Bongers

Ein selig grinsender Mann steht mitten auf leerer, dunkler Bühne. In seinen Armen ein Neugeborenes. Und währenddessen hören wir einen Text, der diesem Kind eine genderkonforme Zukunft prophezeit: Es werde vergessen, von einer Frau geboren worden zu sein, werde alles weibliche ablehnen und sich freudig in die Gemeinschaft der Männer integrieren. Carolina Bianchi versteht diese Brotherhood als eine tief verwurzelte und unbewusste Übereinkunft, aus der sich eine männergemachte Welt wie von selbst ergibt. Und Vergewaltigung und andere Formen sexualisierter Gewalt sind die dunkle Seite einer als Kreativität interpretierten Domäne männlichen Tuns.

„Ich bin nicht die Protagonistin dieses Stücks“, sagt die brasilianische Performerin und ruft in ihrem feierlichen Klagegesang literarische, kunstgeschichtliche und mythologische Allegorien als Zeugen auf. Eine von ihnen ist Persephone, die von Hades vergewaltigte Zeustochter, die in die Unterwelt entführt, hinfort eine ambivalente Rolle zu spielen hat: Sie gilt als Inbegriff des jahreszeitlichen Wechsels von Leben und Vergehen. Carolina Bianchi identifiziert sich mit ihr aber vor allem in dem Sinne, dass sie als Frau in einer männerbeherrschten Welt nur als Schattengestalt in Erscheinung treten kann.

Nach diesem Einganssolo werden zwei Stühle und Tischchen auf die Bühne gebracht für ein Podiumsgespräch mit dem fiktiven Regiestar Klaus Haas. Die Bianchi huldigt dem männlichen Kollegen mit gespielter Bewunderung; Kai Wido Meyer spielt den Erfolgsmenschen mit eitler Herablassung, Selbstgefälligkeit und Coolness.

My theatre was always born out of revolt …
“Mein Theater war immer schon Revolte“ sagt der Theatermann, und präzisiert auf Nachfrage, „gegen Bourgeoisie, Faschismus und soziale Ungerechtigkeit“. Zum wachsenden Vergnügen des Brüsseler Publikums wird hier fast ohne jede Übertreibung der Habitus des Regiestars der vergangenen Jahrzehnte lächerlich gemacht. Wie er über Theaterkunst und Erotik redet und dabei doch nur offenbart, dass er seine Position für sexuelle Ausbeutung nutzte. Am Ende des Gesprächs lädt ihn die Interviewerin Bianchi zum Geschlechtsverkehr ein und präsentiert dem Publikum und einer herbeieilenden Kamera ihre entblößte Vulva. Ein kalkulierter Tabubruch.

Dann wieder die Rückkehr zum Solo, für das die Performerin einen dicken Papierstapel mit sich herumträgt. An literarische Vorbilder erinnert sie in ihrer Lecture-Performance, an Emily Brontë und vor allem an Sarah Kane, der englischen Dramatikerin, die 1999 mit 28 Jahren Selbstmord beging.

“Selbtsmord wird als ein Akt der Gewalt verstanden. Wenn männliche Künstler zu extremer Gewalt neigen, dann ist das ein Ausdruck ihrer Größe. Gewalt weiblicher Künstler ist Ausdruck von Sensibilität, Verrücktheit, aber nur selten ein Beweis für kreatives oder moralisches Potential.“

Nach der Pause sitzen nunmehr die sieben Männer aus Carolina Bianchis Ensemble in Abendgarderobe hinter einem langen Tisch und pflücken sich die eine oder andere Passage ihrer Vergewaltigungsdokumentation heraus. Die bekannten Namen fallen: Von Polanski bis Ramsteinsänger Till Lindemann, von Otto Muehl bis Dominique Pelicot. Die sieben Männer schildern Details distanziert, etwas ungläubig, kopfschüttelnd bis angewidert. Diese Brüderschaft scheint die Gewalt, die von ihr ausgeht, nicht zu erkennen. Diese Männergewalt ist in Bianchis Augen so sehr ein kollektives Gendermerkmal, so tief in Kunst- und Zivilisationsgeschichte verankert, dass Männer sie individuell gar nicht mehr wahrnehmen. „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein Dokument der Barbarei zu sein“. Das Walter Benjamin Zitat von 1940 aus dessen Essay „Über den Begriff der Geschichte“ steht wie ein großes Motto über dem zutiefst melancholischen Ende des Abends. Bianchis „Brotherhood“, das sehr viel Denkstoff mit relativ wenig Anschauung präsentiert, zeigt die männlich geprägte Kunst- als eine Gewaltgeschichte und macht jeden nachdenklich, der noch meinte, die Kultur könne sich als Ganzes wie ein Bollwerk gegen Totalitarismus und Barbarei stellen. Am Ende kniet die Performerin vor einem großen Porträt von Sarah Kane und schneidet sich die Zunge aus dem Mund. Gespielt natürlich. Das Wort geht zurück an die große, tote Poetin. Und unsere Theaterpersephone kehrt ins stumme Totenreich zurück. Ein gewaltiger aber nicht durchgängig großer Abend.