Festival in Avignon
Auftakt mit Dämonen
von Eberhard Spreng
Das Festival d’Avignon ist allarmiert von der Mobilisierung des Rassemblement National bei den vorgezogenen Parlamentswahlen. Am Vorabend der ersten Wahlrunde eröffnet die Theaterschau mit „Dämon“ der spanischen Performerin, Autorin und Regisseurin Angelica Liddell und „Absalon, Absalon!“ nach dem berühmten Romanwerk des William Faulkner in der Regie von Séverine Chavrier.
Deutschlandfunk, Kultur Heute – 30.06.2024 → Beitrag hören
Die gewaltige Bühnenfläche im Ehrenhof des Papspalastes ist mit einem leuchtend roten Belag ausgeschlagen. An der Fassade lehnen einige WC-Schüsseln, Pissoirs und Bidets. Dann kommt von der Seite ein Akteur in weißer päpstlicher Robe, geht zögernd und ratlos umher. Vor einem WC-Becken hält er an, besinnt sich eines anderen und geht langsam weiter. In diesem stillen, unauffälligen Bild mitten in der Trutzburg der Päpste aus dem 13. Jahrhundert ist schon eine von Angelica Liddells Botschaften eingefangen: Der Mensch ist ohne den Hofstaat, ohne seine Geltungsrituale ein Fremder im eigenen Haus, ein Würstchen, ein Nichts. Dann tritt die furiose spanische Performerin selbst auf, wäscht sich sehr sichtbar ihre Scham in der Bühnenmitte und schüttet das höchst profane Waschwasser auf die höchst heilige Papstpalastfassade. Eine Provokation, wie man sie von ihr kennt. Dann eine Beschimpfungsserie der beleidigten Künstlerin, aber nicht etwa über die Kirche. Sie zitiert aus Verrissen namhafter französischer Kritikerinnen und Kritiker.
„Le Figaro ! Armelle Héliot. Où est tu, Armelle ?, ¡presente!“
“Wo bist Du, Armelle?“ fragt Liddell mit maliziösem Entzücken. Die ehemalige Starkritikerin der Tageszeitung Figaro soll sich unwohl fühlen, vorgeführt vor amüsiertem Publikum. Und dann geht es noch anderen aus der kritisch-schreibenden Zunft an den Kragen, bei einem wird Angelica Liddell mit einer Tirade von Schimpfworten regelrecht beleidigend. Die spanische Künstlerin will mit Kritik nicht umgehen; sie beansprucht eine absolute, unhinterfragbare Autorität der Künstlerschaft. Wie Ingmar Bergman, den sie im zweiten Teil ihrer Performance ehrt, unterstützt von Schauspielerinnen und Schauspielern des schwedischen Nationaltheaters „Dramaten“, an dem Ingmar Bergman immer wieder inszenierte. Der war von der Beerdigung von Papst Johannes Paul dem Zweiten tief beeindruckt und hatte sich davon für die eigene Beisetzung inspirieren lassen, die er in einem detaillierten Szenario fixierte, das nun Liddell re-enactet.
Einen Choral auf der Beerdigung übertönt bald Hubschrauberlärm. Auch das Cello-Stück macht schnell ein lauter Warnton unhörbar. Wie ein Parasit legt sich der Weltlärm über das Sublime, das bei Liddell akustisch vor allem durch Johann Sebastian Bach vertreten ist, mit Takten aus der Toccata, aus der „Erbarme Dich“-Arie, aus dem „Jesu, meine Freude“-Choral. Angelica Liddell inszeniert die Freude am Tod, den Moment des Übergangs, das Überwinden aller weltlichen Zwänge. Als deren schlimmsten geißelt sie den Sexualtrieb in einer kraftvollen Wutpredigt. Es bleibt ihr Rätsel, wie sie die performative Kraft für ihre langen rhetorischen Kaskaden mobilisiert.
„Dämon“ ist eine Hommage an einen der Künstler, an Ingmar Bergman, der die Bildwelten ihrer Jugend prägte. Es ist aber auch eine pseudoreligiöse Messe für die Sehnsucht nach einem Jenseits, für den die Künstlerin kein Heilsversprechen abgeben kann.
Dämonen beherrschen auch die Familie des Thomas Sutpen, eines mythenumrankten Farmgründers und seiner von Inzestverdacht und Brudermord geprägten Familie, die in William Faulkners berühmtem Roman „Absalom, Absalom!“ gleich mehrere Erzähler zu ergründen suchen.
In einer fünfstündigen Aufführung vermischt die Chefin des Genfer Theaters, Sévérine Chavrier, die Romanhandlung mit Denkweisen ihres heutigen Ensembles. Der unentwegt lärmenden und geschwätzigen Inszenierung fehlen Momente der Ruhe, dynamische Wechsel. Verblüffend ist allerdings die Bildgewalt. Auf der mit Erdreich bedeckten Vorderbühne stehen zwei Autos, es wird getanzt und gekämpft, auf der breiten Video-Projektionsfläche erscheinen Bilder aus dem Inneren von Sutpens Farm. Das Powerplay und der trashige Expressionismus erinnern an Frank Castorf früherer Inszenierungen, Musikzitate aus der langen Geschichte Hollywoods sollen dabei eine historische Einfärbung schaffen.
„Il nous jouait le rôle du grand riche, oisif, arrogant.“
Die Zeit vor, während und nach dem amerikanischen Bürgerkrieg wird hier mit immergleicher Ästhetik bebildert. Vom „Fluch des Südens“ ist die Rede, von Rassismus. Das diverse Ensemble beglaubigt ihn im Powerplay, allerdings mit satirisch-dramatischen Gesichtern in Großaufnahmen. Nur ganz zum Schluss beendet eine Szene in einem Auto die laute Ratlosigkeit der Aufführung mit einem stillen poetischen Moment. „Such mal bei Google-Maps ein Ort ohne Rassismus, da müsste man hin“, sagt da der weiße Mann. „Ja, aber ich kann nicht autofahren“, sagt die schwarze Frau. Der Festivalauftakt in Avignon macht eines deutlich: Die Dämonen behalten vorerst die Macht über die Menschen auf der Bühne.