Tolstoi am Deutschen Theater
Ach, halt doch die Pappe!
von Eberhard Spreng
Tolstois „Auferstehung“ ist der letzte Roman des russischen Klassikers. Die von Armin Petras inszenierte Theaterversion war ursprünglich für November des vergangenen Jahren vorgesehen und musste mehrfach verschoben werden. Jetzt kam der Krieg und das verändert den Blick auf die Produktion.
Deutschlandfunk, Kultur Heute – 27.03.2022 → Beitrag hören
In dem schönsten Bild dieses Abends huschen Schatten vor einer nebelverhangenen Landschaft vorbei: ein Bauer mit Sense, ein Mann, der Holz hackt, ein Pope, Bilder einer Prozession des Landlebens. Im Mix aus Videoprojektion und Schattenrisstheater defiliert, zu schweren symphonischen Klängen, das ewig weite Russland über die Bühne des Deutschen Theaters. Dann wieder verwandeln sich die Akteurinnen und Akteure mit lustigen Pappfiguren zu Fabelwesen: Eine Schnecke kriecht durchs Bild, auch ein Schlitten und manches andere und unter ihnen die junge Katja Maslowa mit einem riesigen Pappkopf mit langen Pappzöpfen. Sie ließ sich in einer Osternacht von einem jungen Militär verführen, geriet dann auf die schiefe Bahn, wurde zur Prostituierten und landete schließlich viele Jahre später mit Mordanklage vor einem Gericht. Einer der Geschworenen: Der Fürst Nechljudow, eben jener Mann, der sie einst schwängerte und dann verließ. Doch aus dem einst genusssüchtigen Fürsten wird nach dem Wiedersehen mit dem einst missbrauchten Mädchen der reuige Sünder, der hinfort gegen die eigene Schuld mit dem Furor des Sozialrevolutionärs ankämpft.
„Sie stehlen weil sie wissen, dass der Staat auch stiehlt, im Form von Steuern. Sie wissen, dass jeder Händler stiehlt, vom Stehlen lebt. Sie wissen doch, was in den Banken in den Ministerien, in den Amtstuben passiert, was sie tun ist Notwehr. Es ist der Versuch die eigenen Seele zu retten.“
Felix Goeser spielt den männlichen Protagonisten in Tolstois letztem Roman, der in den ersten Kapiteln die Vorgeschichte von Verführung und Verstoßung der jungen Frau und ihre falsche Verurteilung protokollartig nüchtern bilanziert. Gerade nur illustrierend stehen die vielen Figuren Tolstois für Typen sozialen Verhaltens und allzu schnell heften sich die allgemeinen moralischen Vorstellungen des russischen Klassikers an bestenfalls skizzenhaft erzählte Ereignisse. Die Flächigkeit dieser Menschen illustriert Petras mit einem Theater der forcierten Unfertigkeit: Sein Ensemble agiert, so als machten sich da Theateramateure mit dilettantischem Spiel über einen Stoff her. Theater als lustige Karikatur von Theater.
Im stillen Zentrum: Der melancholische Realismus
Das stille Herz dieses ersten Teils ist die von Anja Schneider gespielte Katarina Maslowa. Sie ist Opfer persönlicher und politischer Schandtaten, und zugleich die Figur, an deren melancholischem Realismus alle Justizwillkür, alle Korruption der Macht, und auch die lästige Reue des einst genusssüchtigen Nachljudow abgleiten.
„Katarina Maslowas Weltanschauung bestand darin, dass das Wohl aller, ausnahmslos aller Männer, der Jungen, der Alten, der Generäle, der Gymnasiasten, der Gebildeten, der Ungebildeten im Geschlechtsverkehr mit Frauen bestand. Im Laufe von 20 Jahren hatte sie überall gesehen, angefangen mit Nechljudow, dass die Männer sie brauchten.“
Vier Jahre Sibirien warten auf die Frau trotz der Versuche des Fürsten, vor Gericht eine Aufhebung der Verurteilung zu erwirken. Was im sibirischen Straflager geschieht, ist am Deutschen Theater nach der Pause zu sehen: In einer zweiten radikal anderen Annäherung an die Literatur der russischen Klassikers.
„Es lebe die Revolution … “
An die Stelle von russischer Volkswaisen und Symphonik treten jetzt Rap, Doublebeat und Minimal Musik. Und eine ganz überraschend andere Energie: In der weißen sibirischen Hölle angekommen, ergreift eine euphorische Stimmung die Körper und Geister. Es wird ungehemmt über Natur und Gott und die Schöpfung und Darwin diskutiert und das Kernproblem der Tolstoischen Philosophie, in der sich Adornos berühmter Ausspruch andeutet. Es gibt kein richtiges Leben im Falschen. Im Ton donnert ein Militärjet im Tiefflug vorüber, eine Detonation ist zu hören. Ein ausgestreutes Zeichen aufs bittere Heute, aber ebenso isoliert und unverbunden wie ein paar Sätze aus Tolstois „Rede gegen den Krieg“ von 1909, die dem Publikum am Eingang in die Hand gedrückt worden war. Mit Bildern einer fröhlichen Apokalypse geht der lange Abend zu Ende, ohne dass man wüsste, wie diese seit November mehrfach verschobene Inszenierung in der veränderten Situation heute gedeutet sein will: Sind wir mit Tolstoi gegen Putin und für Russland? Oder doch nur im Allerlei der theatralen Illustration von Diesem und Jenem? So unentschieden wirkt diese „Auferstehung“ wie unglücklich aus der Zeit gefallen.