Ariane Mnouchkine inszeniert Stueck ueber die historischen Hintergruende des Ukrainekriegs

Théâtre du Soleil
Mehrteiliges Geschichtsepos beginnt mit Jahr 1917
von Eberhard Spreng

Die Erschütterung über den Angriff Russlands auf die Ukraine sind der Auslöser für Ariane Mnouchkines neue Arbeit. Das mehrteilige Theaterepos heißt: „Ici sont les Dragons – un grand spectacle populaire inspiré par des faits réels“. Sein erster Teil trägt den Titel: „1917 – La victoire était entre nos mains“ nach dem „Tagebuch der russischen Revolution“ von Nikolai Suchanow. Fortsetzungen sollen in den nächsten Jahren bis in die Gegenwart führen.

Deutschlandfunk, Kultur Heute, 10.12.2024 → Beitrag hören

Foto: Lucile Cocito

Warum dieses Stück? Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten, ja: Sie wird in einer fulminanten Eingangsszene dem Geschehen geradezu vorausgeschickt: Auf einem riesigen weißen Tuch im Hintergrund flammt das Video von Russlands Präsident Putin auf, in dem er von der so genannten „militärischen Spezialoperation“ spricht. Eine aufgebrachte Schauspielerin rennt ob dieses ungebetenen Eindringlings quer über die leere Bühne nach hinten und schimpft.

„Ta gueule !, Arrête ! Assassin !“

„Halts Maul, Mörder!“ brüllt die Darstellerin, prügelt mit ihren Fäusten gegen das Tuch. Das kommt im Wallung und verzerrt Putins Gesicht wie bei einem gestörten Fernsehsignal. Putins Narrativ stören, darum geht es hier, die Geschichte neu erzählen für ein Europa im Schock. Ariane Mnouchkine will, größenwahnsinnig genug, ein Geschichtsfresko ausspannen, das von 1917 bis in die Gegenwart reichen soll und die Irrtümer beenden, die Westeuropa verblenden. Und die tapfere Cornélia auf der Bühne ist ihre Stellvertreterin. Für sie ist vor der Rampe ein Verschlag errichtet, mit lauter Schubladen für Dokumente der Geschichte und für Bücher, aus denen sie gelegentlich kurze Passagen vorliest. Diese Cornélia ist Spielleiterin für einen Theaterabend, der Herrscher-Figuren der Geschichte auftreten lässt: Lenin, Stalin, Trotzki, aber auch Winston Churchill, der letzte Zar Nikolaus der II oder Adolf Hitler, der als einfacher Soldat des Ersten Weltkriegs in seinem Graben einen Brief schreibt, dessen Worte von der Bühne tönen.

„Voller Wut drängten wie den einzigen, überlebenden Offizier: ‚Leutnant! Führen sie uns ins Feuer!’“

Deutsch, Russisch, Ukrainisch, Französisch und Englisch sind auf der Bühne im Théâtre du Soleil zu hören. Finstere Schlachtengemälde lösen sich ab mit dunklen Stadtansichten, ein düsterer Soundscape begleitet die Chronik über das für die weitere europäische Geschichte entscheidende Schicksalsjahr 1917. Das damals so heißende Petrograd ist immer wieder Schauplatz. Fahrbare Dekorelemente huschen herbei und verschwinden wieder, Schneeboden wird ausgelegt und wieder eingewickelt, rasant wird die Bühne für jede der 21 Szenen umgestaltet. Wir erleben das Ende der Zarenherrschaft und die entscheidenden Monate der Russischen Revolution. Gelegentlich treten die Akteurinnen und Akteure aus ihrer Rolle, wenden sich direkt an die Regie.

„On devrait absolument lire Karl Kautsky…

„Wir müssen unbedingt Karl Kautsky lesen“, sagt da ein Revolutionär ganz aufgeregt, aber Cornélia will ihr ideologie-geschichtliches Erklärstück nicht mit Theoriegrundlagen über die deutsche und internationale Sozialdemokratie ausufern lassen. So bleibt gelegentlich das Anekdotische: Wie deutsche Politiker sich entscheiden, den Exilrussen Lenin in einem versiegelten Waggon quer durch Deutschland fahren zu lassen, weil sie hofften, er werde in Russland die Geschickte der Revolution in ihrem strategischen Sinne beeinflussen.

„Der kleine Glatzkopf und seine Bande. Wir setzen sie in Petersburg ab. Lenin fuchtelt wild, er schreit gegen den imperialistischen, anektionistischen, kapitalistischen Krieg und in weniger als sechs Monaten unterzeichen wir einen Separatfrieden mit Russland.“

Karl Helfferich, deutscher Staatssekretär und viele weitaus prominentere Figuren der Geschichte treten mit kunstvoll gefertigten Masken auf, ihr Spiel ist plakativ. Die Stimmen aber kommen, gesprochen von anderen Akteurinnen und Akteuren, aus den Lautsprechern. Dies ist kein Theater der Verkörperung, sondern der Masken, Illustrationen und allegorischen Übersteigerungen. Die Zeit der Debatten geht zuende und wird abgelöst von der bolschewistischen Machtübernahme. Die Menschewiki verlieren im politischen Kräftespiel, die Hoffnung auf ein demokratisches Russland ist vorbei.

Fast fünfundfünfzig Jahre, ein ganzes Theaterleben, trennen diese Revolutionsgeschichte von Ariane Mnouchkines frühem Kultstück „1789“, als das Publikum die französische Revolution als immersives Jahrmarktsspektakel erlebte. Das hier begonnene Opus Magnum, das Alterswerk der immer aus politischer Notwendigkeit heraus agierenden Theaterprinzipalin wird von einer düsteren Vorahnung überschattet. Das Theater wird fast erstickt unter der Vielzahl der Ereignisse, der Mensch fast unkenntlich im Mahlstrom der Geschichte. Dennoch wünscht man sich eine rasche Fortsetzung und fürchtet sich zugleich vor dem, was sie erzählen wird.