Ariane-Mnouchkine-inszeniert-L’île-d’or

Théâtre du Soleil in Paris
Die Möglichkeit einer Insel
von Eberhard Spreng

In den 1960er Jahren reiste die heute 82-jährige Ariane Mnouchkine nach Japan, um dort das Nô und das Kabuki Theater kennen zu lernen, wichtige Inspirationsquellen für ihre Theaterarbeit. Die Ensembleproduktion „L’île d’Or“ ist auch eine Rückkehr zu den Anfängen.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 13.11.2021 – Beitrag hören

Foto: Michèle Laurent

[ungekürzte Version] Ein weiter Raum, ein Bett, eine kranke Frau, die sich unter Schmerzen windet. Und ein schwarz gekleideter Helfer, der das Krankenbett schwungvoll durch den Raum schiebt. Dann stürzt eine weitere Figur auf die Bühne und man weiß nicht so recht, ob sie nichts weiter ist als die Erfindung der kranken Frau. Und man weiß auch nicht, ob nicht alles, was nun folgt, nur der Fiebertraum einer kranken Cordelia ist, die Erfindung einer Autorin, die die ganze Welt imaginieren kann, vielleicht um eines Tages an ihr zu genesen, zuerst aber wohl eher, um unter ihren Zumutungen fast erdrückt zu werden.

„Fukoshima ist ein Skandal. Trump, Putin, Erdoğan, Bolsonaro, Johnson, all diese Typen, die uns, als Staatmänner verkleidet, die Hölle aufzwingen wollen.“

Vertreter dieser kranken politischen Kultur sind auf Mnouchkines Theaterbühne zwei Herren, die an diesem Ort ein Bauprojekt ins Auge fassen, ein Projekt für Inseltourismus der banalsten Sorte. Der Direktor einer französischen Hotelkette gehört auch zu diesen Kulturvernichtern , denen sich aufrechte Frauen entgegenstellen. An ihrer Spitze eine Bürgermeisterin, die auf der von ihr regierten Insel ein internationales Theaterfestival plant.

Foto: Michèle Laurent

Eine solche Rahmenhandlung erlaubt natürlich den Auftritt verschiedenster illustrer Figuren aus dem ästhetischen Fundus des Sonnentheaters, Wanderschauspieler, ein Kabuki Meister, aber auch ein palästinensisch-isralisches Duo, eine brasilianische Truppe mit katholisch-sozialistischem Background, zwei nackte Wiedergänger des Living-Theatre und viele andere. Immer wieder schiebt das Ensemble, das hier zugleich als Schauspielkünstlerinnen- und Künstler und als Bühnenarbeiterinnen- und Arbeiter die Szenen meistert, fahrbare Podeste herbei, um den verlassenen Hangar in eine Theaterbühne zu verwandeln. Und auf der treten neben den Vertretern des Welttheaters auch die Protagonisten der heutigen Weltprobleme auf, wobei die Pandemie, als Leitmetapher aller Übel, eine zentrale Rolle spielt.

„Ganze Dörfer, Städte, Nationen wurde angesteckt und wurden verrückt. Die Menschen lebten in Unsicherheit und verstanden einander nicht mehr. Jeder dachte, er allein habe die Wahrheit erkannt und marterte sich beim Blick auf die anderen.“

Immer wieder erlebt das Publikum in der Inszenierung der nun 82-jährigen Theaterprinzipalin Momente der Magie. Wenn mit den einfachsten Mitteln die krude Bühnenwirklichkeit phantastische Verwandlungen erfährt, poetische Bilder entstehen, natürlich ohne Videoprojektionen, ohne Mikroports, ohne virtuelle Bühnenbilder. Es ist das Kind in der Zuschauerin, im Zuschauer, das hier die naive Freude am physischen Theater noch einmal erleben darf: An den Masken, die die Gesichter der Akteurinnen und Akteure zu flächigen Typenabbildern verändern. An den diversen gemalten Landschaften, die hinter den Fenstern an der Rückseite der Bühne sichtbar werden, Panoramen für die Welt jenseits dieses verlassenen Hangars. Und kurioses Staunen auch über die merkwürdig verdrehte Syntax der Rede, die das Objekt kunstwillig an den Satzanfang stellt und damit das vertraute Französisch in eine entfernte Märchensprache verwandelt. Und da mag man darüber hinwegsehen, dass hier nicht eine Geschichte erzählt wird, sondern viele unverbundene Geschichten, ein humanistisches Panoptikum, das gerne all die ehren möchte, die sich mutig und manchmal auf verlorenem Posten den politischen Mächten entgegenstellen: Auf dem Tian’anmen Platz in Peking, oder bei den weitaus aktuelleren Protesten in Hongkong.

Auch der chinesische Augenarzt Li Wenliang, der sich früh in der Coronaepidemie der chinesische Staatsraison entgegenstellte und vor der Gefahr warnte, wird in einer komischen Szene mit sophistischen Belehrungen abgefertigt. Gegen all das, gegen eine bösartig mutierte Politik hilft nur Poesie, Theater, Utopie. Und die fand Ariane Mnouchkine in der Vorbereitung auf diese Ensembleproduktion auf der japanischen Insel Sado, die früher einmal politisch Verfolgten als Zuflucht gedient hatte. Sie hat sich als Ort der Phantasie in die imaginäre „Isle d’Or“ verwandelt, eine goldene Insel oder genauer eine Insel der goldenen Träume. Auf ihr kann am Ende auch Cordelia wieder von ihrem Bett aufstehen. Die Welt, die am Anfang vielleicht wirklich nur ihre Erfindung war, hat sie kraft ihrer guten Seelen geheilt. 2016 hatte Ariane Mnouchkine und ihre Autorin Hélène Cixous schon einmal in „Une chambe en Inde“ eine Cordelia als Herzstück eines Welttheaters auf die Bühne gebracht. Vor Jahren waren Reisen und Workshops in Südindien ausschlaggebend gewesen für die damalige Arbeit am Sonnentheater, nun ist es eine japanische Insel. Beide Regionen sind Leitsterne für die Theaterästhetik der Ariane Mnouchkine. Auch „L’île d’Or“ ist also Bilanz und Rückkehr zu den Inspirationsquellen einer altersweisen Regisseurin.