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Anne-Cécile Vandalem an der Schaubühne
Der aus dem Regen kam
von Eberhard Spreng

Mit „Tristesses“ wurde Anne-Cécile Vandalem 2016 international bekannt. Zwei Jahre später kam „Arctique“ heraus. In beiden Stücken hat sich die belgische Autorin und Regisseurin mit dem Zerbrechen von gesellschaftlichen Mikrokosmen in den Randbereichen einer dystopischen Welt befasst. „Die Anderen“ ist nun an der Schaubühne ihre erste Inszenierung mit einem deutschen Ensemble.

Ensemble im hyperrealistischen Dekor
Foto: Arno Declair

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 01.12.2019 → Beitrag hören

Ein verlorenes Dorf in einer Waldlandschaft, tiefste mitteleuropäische Provinz, ständiger Regen und ein zwischen finsteren Tannen angesiedeltes Hotel. „Zum Alten Kontinent“ heißt es bezeichnenderweise. Über dem hyperrealistischen Dekor eine Leinwand und in Großaufnahme Jule Böwe mit geröteten Augen hinter dem Steuer eines Autos mit maroden Scheinwerfern. Sie fährt einen jungen Mann an und bringt den Schwerverletzten in das Hotel, das sie mit ihrem zutiefst deprimierten Mann weiter betreibt, obwohl da seit Jahren keine Gäste mehr absteigen. Sie behauptet, den Verletzten im Straßengraben aufgefunden zu haben. Was soll mit dem Fremden geschehen, fragt sich die kleine Dorfgemeinschaft bei einem Treffen:
–    „Ich schlage also vor, dass er hier bleibt, bis einer von uns sich schuldig bekennt und die Gemeinschaft von dieser Verantwortung befreit.
–    Es kommt nicht in Frage, dass ich diesen Jungen bei mir aufnehme.
–    Er kann ja erst mal hier im Hotel bleiben. wir haben gedacht, dafür dass wir ihn hier aufgenommen haben, kann er sich behilflich zeigen, wir haben sowieso so viele Schäden wegen dem Regen.“

Vandalem zeigt Bilder der Verlorenheit, der Langeweile, des Trübsinns im Leben der Hoteliers, eines fast funktionslosen Bürgermeisters, einer Lehrerwitwe und weiterer Figuren. In dieses Phlegma dringt der verletzte Fremde ein wie eine Wiederbelebung. So als wäre er ihr eigener Sohn, kümmert sich die Hotelfrau um den jungen Mann. Aus dem Süden sei er geflohen, so erfahren wir, wo ständige Waldbrände die Landschaften verwüsten, während hier unentwegter Regen die Gemüter verdüstert und durchs Dach ins holzvertäfelte Hotelfoyer tröpfelt. Verbittert sind die Menschen hier, fühlen sich abgehängt und das lassen sie jeden spüren, der bei ihnen auftaucht, wie eine angehende Sozialarbeiterin, die später auf der Suche nach dem verschwundenen Migranten mit den Menschen im Dorf spricht.
–    „Ich glaube, ich geh jetzt besser.
–    Wie viel zahlt man ihnen für ihr Praktikum? Ich wette, die zahlen ihnen sogar ihr Flugticket. Nicht mal der Müll wird hier mehr abgeholt. Wissen sie wie hoch das Rathausbudget ist? Ich wette noch nicht mal ein Zehntel von dem was sie kriegen, um ihre Zentren zu unterhalten. Wir haben nicht einmal mehr einen vernünftigen Laden in diesem Dorf.
–    Das tut mir auch leid!
–    Ja, ganz genau, mir tut es auch leid!“

Hinter dem dystopischen Plot um Klimamigration und Strukturwandel auf dem Land schimmern bald andere Erzählebenen hindurch. Denn die Begegnungen zwischen den Dorfbewohnern und dem genesenden Migranten, der beziehungsreich Ulysses heißt, offenbart individuelle Abgründe. Die verwitwete Marge verführt ihn, als wäre in ihm ihr verstorbener Mann zurückgekehrt. Die Hotelfrau Alda pflegt ihn, als sei es ihr Sohn. Es gibt da ein kollektives Trauma, das jede und jeder unterschiedlich verarbeitet in Alpträumen, Schreckensbildern. „Genau da sehe ich wieder diesen Schatten. Er geht unten am Fenster entlang. Er trägt einen Regencape. Wegen der Kapuze kann ich das Gesicht nicht sehen. Er trägt unser Gewehr, und geht auf den Wald zu.“ 

Eine Nachtfahrt im Regen
Foto: Arno Declair

Ein Gewaltverbrechen hatte das Dorf seiner Kinder beraubt und das hatte man Fremden zur Last gelegt. Nun haben die hinterbliebenen Erwachsenen in der verschworenen Dorfgemeinschaft ein kollektives Ritual entwickelt, um ihre verdrängte Schulderfahrung zu bewältigen, denn der Täter kam aus den eigenen Reihen. Und das greift das vorchristliche Motiv des Sündenbocks wieder auf.

Form in Inhalt passen nie zusammen

Schon in den vorhergehenden Arbeiten mit ihren belgischen Schauspielerinnen und Schauspielern hatte Anne-Cécile Vandalem vor dem Hintergrund aktueller ökologischer und ökonomischer Katastrophen den Zerfall geschlossener Gemeinschaften als groteske Krimigeschichten erzählt; immer war da letztlich von einem lustigen Untergang des Abendlandes die Rede. In ihrer ersten Arbeit mit dem wunderbar überdreht agierenden Ensemble der Schaubühne treibt sie ihr surreales Verwirrspiel um theatrale und filmische Genres weiter. Plot und Erzählung sind immer wie verschoben zur formalen Umsetzung: Die mit Händen zu greifende Komik passt nicht zum getragenen Rhythmus der Darstellung; die verhandelten Zeit- und Reizthemen nicht zur Verspieltheit der Fabel, Grusel und Suspense nicht zur Lächerlichkeit der Objekte, die sie transportieren sollen. Nicht, was hier erzählt wird, ist letztlich interessant, sondern wie es in der Darstellung eher verschleiert, als offenbart wird. Das ist unterhaltendes Metatheater, ein Aktualitätslustspiel mit einer Flut von Verweisen und Bezügen auf europäische Geschichte und Gegenwart.

„Tristesses“ in der Bilanz des Festival d’Avignon 2016
„Arctique“ in der Bilanz des Festival d’Avignon 2018