Ein Klassiker von Martin Crimp
Anne, verzweifelt gesucht
von Eberhard Spreng
1997 wurde Martin Crimps „Angriffe auf Anne“ uraufgeführt. Der Dramatiker experimentierte mit einer Titelfigur, die eigentlich nur aus dem besteht, was andere über sie denken und sagen. Und er stellte das eigene Schreiben auf den Prüfstand. Dieses Metatheater entdeckt die Schaubühne für sich neu. Regie führt Lilja Rupprecht, die dort zuvor schon „Jeff Koons“ auf die Bühne gebracht hatte.
Deutschlandfunk, Kultur Heute – 17.02.2025 → Beitrag hören

Wer ist Anne? Eine Terroristin? Eine Reiseleiterin? Ein Pornofilmstar? Oder eine Künstlerin, die in ihren Werken diverse Selbstmordversuche thematisiert? Martin Crimp hat mit „Angriffe auf Anne“, im englischen Original „Attempts on her life“, ein Verwirrspiel um die Identität einer Person entwickelt, das zudem auch noch dramaturgisch vielschichtig gelesen sein will. Denn der englische Titel kann sowohl „Versuche über ihr Leben“ als auch „Anschläge auf ihr Leben“ bedeuten. Es geht also einerseits um die literarische Unschärfe der Titelfigur und andererseits um die Gewalt, die man einem Menschen antut, wenn man ihn beurteilt, ihm eine Identität zuschreibt. Es ist so natürlich auch ein Stück über Gewalt gegen Frauen. Diese Frau ist auf der kleinen Bühne des Globe in der Schaubühne zunächst völlig abwesend. Und zu hören sind nur Stimmen auf ihrem Anrufbeantworter:
– „Anne. Ich wollte mich entschuldigen. Mir ist klar geworden, wie sehr ich dich verletzt habe, mein süßer, kleiner Liebling, und … Hör zu. Hör zu, da ist gerade jemand in der anderen Leitung, Anne. Ich muss den ganz unbedingt – tut mir leid – aber ich muss das Gespräch unbedingt annehmen. Ich ruf dich zurück.“
Was wie ein reines Hörstück beginnt, setzt sich optisch als Spiel mit Visionen und Spiegelungen fort: Als ein Liebespaar, das auf einem Bett liegt, das von einer Kamera im Schnürboden senkrecht von oben erfasst wird wie von einer höheren Instanz. Oder als Maskenspiel, wenn Jule Böwe, Kai Bartholomäus Schulze und Marcel Kohler in verschiedenen gepunkteten Röcken und Blusen und hinter drei gleichen und einigermaßen ulkigen Frauenmasken über Mensch und Welt schwadronieren. Oder wenn Blumenranken den Videohintergrund abgeben für die Meditation über eine Zeit, als Mensch und Natur vereint waren. Einer Welt, in der alle Bäume Namen hatten und gepflanzt wurden bei jeder Geburt eines Menschenkindes. Aber das war eine Welt, die in Hass und Gewalt untergegangen ist.
– „Sie ist sehr wütend, aber sie hat auch das Recht.
– Sie hat – na ja, selbstverständlich – hat sie das Recht, wütend zu sein.. Alles zerstört. Eine ganze Lebensweise zerstört. Eine Verbundenheit zur Natur zerstört.“
Anne, oder hier Anya, ist diesmal ein Konzept, eine Allegorie für Mutter Natur. Die „17 Szenarien für das Theater“, wie das Stück von Martin Crimp im Untertitel heißt, ist ein fragmentiertes Sittenbild vom Ende der 1990-er Jahre, als Massenmedien immer mehr Denkweisen und Weltbilder prägten, als der Jugoslawienkrieg den Schrecken von Massaker und ethnischen Säuberungen ins europäische Bewusstsein zurückbrachte und als man zu ahnen begann, dass man künftig nur noch existiert, wenn man sein digitales Abbild in der Welt hinterlässt.
„Die Kamera liebt dich
Die Kamera liebt dich
Die Kamera liebt dich“
„Die Kamera liebt dich“ heißt der Punk, den das Ensemble mit tatkräftiger Unterstützung von Musiker Fabian Ristau in den Saal schmettert. Heute, 28 Jahr später, kann man die Folgen der von den Sozialen Netzwerken global ausgebeuteten narzisstischen Selbstschau absehen. Eine Selbstbestimmung ist ohne perfekt performte Selbstinszenierung fast undenkbar. Das Spiel mit der Identität ist bei Martin Crimp noch ein zeit- und medienkritisches Spiegelkabinett, in dem Ich und Welt schillernd ineinander übergehen. Aber dieses Stück über das Stückeschreiben ist im Kern doch auch eine Meditation über das Abwesende. Anne ist alles, ist überall und zugleich nirgends. Die Regie und das Ensemble rackern sich tapfer ab an diesem Widerspruch. Und irgendwie ist Anne in der Schaubühne am Ende dann doch einfach nur Jule Böwe, wenn sie mit melancholischem Ernst den Song vom „Girl next door“ ins Mikro haucht.
“She’s a terrorist threat
She’s a mother of three
She’s a cheap cigarette
She is Ecstasy“
Martin Crimps „Angriffe auf Anne“ ist ein früher, medienkritischer und fast schon prophetischer Beitrag für eine Identitätsdebatte, die sich erst im 21. Jahrhundert voll entfalten sollte. Die Ausgrabung in der Schaubühne ist eine melancholische Revue und Kostümschau: Regieideen folgen aufeinander, sie alle sind eher Illustrationen. Eine theatrale Dringlichkeit des Vorhabens wird so nicht erkennbar.