Amir-Reza-Koohestani-inszeniert-Woyzeck-interrupted

Online-Premiere am Deutschen Theater
Woyzeck für zwei
von Eberhard Spreng

Was erzählt „Woyzeck“ vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um die Femizide. Das erkunden Mahin Sadri und Amir Reza Koohestani mit einer Version für ein nur zweiköpfiges Ensemble.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 21.12.2020 → Beitrag hören

Foto: Arno Declair

Schemenhafte Konturen einer durchsichtigen Stadtlandschaft, leise Stimmen wie ein Raunen, und irgendwann ein erster grausiger Bericht über die Geschichte eine Frauenmordes:

„Mit seinem Gesicht von 103 Kilo setzt er sich auf den Oberkörper seiner Freundin, einer zierlichen Frau, drückt mehrere Minuten mit den Daumen gegen ihren Kehlkopf. Er versteckt ihre Leiche in einer Kellerruine, die er vom Spielen aus Kindertagen kennt. Ihre Leiche wird erst nach wochenlanger Suche gefunden.“

Der Bericht eines Femizids. Alle drei Tage wird in Deutschland eine Frau Opfer eines solchen Mordes. Amir Reza Koohestani tastet sich aus dem Grundrauschen eines aktuellen Gesellschaftsproblems vor zur grausigen Geschichte von Woyzeck und Marie. Und er zeigt detailreich, wie das Fragment gebliebene Stück von Georg Büchner von vor über 180 Jahren in die Gegenwart hineinstrahlt. Hier sind die Protagonisten ein Schauspieler, eine Hospitantin, die sich bei Proben kennen lernten, noch vor dem Lockdown. Eine Affäre beginnt und vergeht, aus der Not heraus bleibt sie, selbst derzeit wohnungslos, bei ihm. Jetzt will sie weg, wartet auf die neue Bleibe . Lorena Handschin spielt eine junge, leicht schnippische Frau in der Defensive, nervös bedacht darauf, einen Ex-Lover auf Abstand zu halten. Hinter dessen notdürftig auf Verständnis bedachter Fassade brodelt ein Meer von Besessenheiten. Ein Kindsmann, dieser Woyzeck, einer, der Stimmen hört, über die er mit seinem Psychotherapeuten spricht.

– „Ich versichere Ihnen, dass ich real bin.
– Das behaupten die anderen Stimmen aber auch.
– Wie unterscheiden Sie, was real ist und was nicht?
– Was ich sehen kann, ist real.
– Ist es vorgekommen, dass sie etwas gesehen haben und danach hat sich herausgestellt, dass es nicht existiert?
– Nee, bisher nur Stimmen.“

Das Gespräch mit dem Therapeuten als Videokonferenz und Selbstgespräch, in das sowohl die Figur des Freundes Andrés, als auch die Figur des Doktors eingehen, der bei Büchner mit dem Protagonisten unethische Experimente anstellte. Hier ist er nur der fiktive Spiegel für das Unausgesprochene in Woyzecks konfliktbeladener Existenz.

Mahin Sadri und Amir Reza Koohestani haben noch weitere emblematische Figuren des Stücks aus ihrem realen dramatischen Dasein zu inneren Facetten einer Eifersuchtsgeschichte gemacht. Wenn Marie von den körperlichen Vorzügen des von ihr bewunderten Tambourmajors schwärmt, so ist das hier nichts weiter als eine Rückblende in die Zeit vor 6 Monaten, als sich diese zeitgenössische Marie in ihren theaterspielenden Woyzeck verliebte.

„Komm her, na komm, geh noch einmal vor dich hin, über die Brust wie ein Rind, und ein Bart wie ein Löw, so ist keiner.
– Ok, noch mal von vorne
– Nochmal?
– Die gleiche Stelle.“

Was Koohestani hier auch im Wechsel von Büchnertext und Überschreibung erzählt, ist die Katastrophe, die über zwei junge Theatermenschen hereinbricht, die durch Corona von einer vitalen Ordnungsmacht abgetrennt wurden: Der Theaterbühne mit ihrer Symbolkraft und Triebregulierung. Büchners „Geht doch alles zum Teufel, Mann und Weib!“ findet hier vor dem Hintergrund der Pandemie statt. Woyzeck als berückender Mikrokosmos von zwei Menschen in einer von Covid-19 auf engsten Raum zusammengedrückten Privatheit.

Ein Internettheater der starken Bilder

Kleine gläserne Boxen sind das Dekor, die eine clevere Bildregie zudem ineinanderschieben kann und aus der nur sehr selten Ausbrüche in die Weite der Bühne möglich sind. Großaufnahmen von Gesichtern im Schein von Handy und Computerbildschirm überblenden sich mit den Totalen eines bedrückendes Innenraums. Online-Theater in stark gebauten Bildern. Eine Magnetmesserleiste über einer Topfpflanze auf einem kleinen Tisch deutet im David-Lynch-Stil auf ein böses Ende hin. Georg Büchner hatte sich für die Geschichte seiner Bluttat von einer Zeitungsmeldung inspirieren lassen. Nachdem nun aber von solchen Femiziden während der Aufführung schon so oft aus heutigen Zeitungen zitiert wurde, möchte Koohestani der grausigen Wirklichkeit entkommen. Er nennt seine Geschichte „Woyzeck interrupted“. Der Mord geschieht hier nur in der Phantasiewelt seines Protagonisten, als Spiel mit zwei kleinen Drahtfigürchen. Koohestanis Marie packt ganz am Ende einfach die Sachen und geht. Büchners revolutionäres Stück machte die Bühne dereinst bereit für die realen, kriminellen Abgründe des Menschen; Koohestanis beklemmende Moderne möchte vor lauter realem Grauen die Tat selbst nicht mehr erzählen.