„Philoktet“ am Deutschen Theater
Die Macht der Lüge
von Eberhard Spreng
In klugen Stückentwicklungen hat Amit Reza Koohestani die jüngere Geschichte seines Heimatlandes Iran beleuchtet. Arbeiten wie „Hearing“, oder „Summerless“ waren auf europäischen Festivals zu sehen. Aber er arbeitet auch als Gastregisseur an deutschen Theatern, wie jetzt am Deutschen Theater, wo er Heiner Müllers „Philoktet“ inszeniert.
Deutschlandfunk, Kultur Heute – 06.10.2019 → Beitrag hören
„Death from above” steht auf einem kleinen Gerüst, mit dem Odysseus zu Hubschraubergeräuschen vom Bühnenhimmel auf die Erde herabsinkt. Zu Neoptolemos, der unten mit einem Gebläse das säuberlich zusammengekehrte Laub auf der Bühne verteilt. Mit der Ankunft der beiden auf der Insel Lemnos wird die karge, öde Welt des einsamen Philoktet aufgemischt und sein seit zehn Jahren ordentlich bewahrter Hass auf die Griechen wieder virulent. Die hatten den gefürchteten Bogenschützen einst hier ausgesetzt, weil sie die stinkende Wunde nicht ertrugen, die ihm ein Schlangenbiss während der Vorbereitung auf den Troja-Krieg zugefügt hatte. Jetzt wird der Verstoßene doch wieder gebraucht, weil seine unwilligen Truppen ohne ihn nicht in die Schlacht ziehen wollen. Aber zunächst braucht Odysseus den jungen Neoptolemos, der Philoktet entwaffnen soll.
– „Schwatz ihm den Bogen aus der Hand. Mit Pfeilen
schickt er mein Wort zurück in meinen Mund
Du hattest keine Hand in seinem Unglück
Nicht dein Gesicht auf unseren Schiffen sah er
Leicht mit gespaltener Zunge fängst du ihn
Leicht schleppen wir aufs Schiff den Waffenlosen.
– Zum Helfer bin ich hier, zum Lügner nicht.
– Doch braucht es einen Helfer hier, der lügt“.
Staatsraison trifft hier auf Moral. Der verschlagene, skrupellose Odysseus kommt ohne den jugendlichen Mann nicht aus, der zwischen Pflichtgefühl und Wertevorstellungen schwankt. Wie Philoktet war auch Neoptolemos durch den listigen Strategen Odysseus betrogen worden. Dieses gemeinsame Schicksal soll Vertrauen stiften. Eine perverse Konstruktion, ein Stück als Kampf der Konzepte, der Lebens- und Denkmodelle, ein „Versuch um das Lehrstück“, wie Müller einst schrieb.
Dann die Begegnung der Betrogenen, eine Annäherung, und ein Moment der Hoffnung für den so lange Einsamen. Langsam lässt der iranische Regisseur eine Videokamera auf die Beiden herabsinken. Sie umkreist die am Boden Liegenden, ein Bild wie das eines Liebespaares. Die Videoprojektion ist hier einmal nicht angefüllt mit schnell pulsenden Bildern, Bewegung und Hektik, sondern fördert die Einfühlung in die Details einer Konfliktordnung. Neoptolemos lügt, um der Pflicht zu genügen und entwaffnet den Bogeschützen. Und dann gesteht er ihm seine Lüge, weil er die nicht erträgt. Aber auch dafür hat der Verstoßene und nun zum Weltverweigerer gewordene, der betrogene Philoktet nur Spott übrig:
„Setzt deinen Fuß auf meinen Nacken, Sieger
Lehr den Besiegten, was du lerntest vor ihm
Vor ihm besiegt, lehr mich die Süßigkeit
Der Unterwerfung schmecken, Unterworfener“
„Lehr mich die Süßigkeit der Unterwerfung schmecken“, das ist Klartext Müller, eine Antwort des Autors auf die Zensur vorangegangener Stücke. „Philoktet“, diese ins Gewand der Klassik gesteckte Abrechnung mit dem Stalinismus, konnte in der DDR zunächst nicht aufgeführt werden: Ein Drei-Männer-Showdown, eine Militärmission, die übel endet, denn Neoptolemos tötet den Philoktet, bevor der den verhassten Odysseus umbringen kann. Aber der kann mit seiner gnadenlosen taktischen Schläue sogar noch aus dem Toten und einer neuen Lügengeschichte eine Waffe machen.
„Wenn uns der Fisch lebendig nicht ins Netz ging
Mag uns zum Köder brauchbar sein der Tote.“
Jörg Pose spielt diesen Odysseus konzentriert; er beherrscht die hochverdichtete, bilderreiche Rhetorik. Edgar Eckert gibt den Philoktet als grimmigen, körperbetonten Macho. Regisseur Koohestani war in den letzten Jahren mit seinen diverse Aspekte der iranischen Gesellschaft sensibel auslotenden Stückentwicklungen immer wieder auf europäischen Festivals zu Gast. Hier nun liefert er, als Gastregisseur am Deutschen Theater, für Müllers monologlastiges Stück eine konzentrierte, alle Aufmerksamkeit auf die Rede konzentrierende Aufführung. In einem von Gittern spärlich beleuchteten Verließ auf der Unterbühne endet sie mit einem eher angedeuteten als ausagierten Mord. Koohestani beschwört alte Theatertugenden. Aber irgendwie ist seine Inszenierung auch aus der Zeit gefallen. Sie findet keinen Vektor, der von Müllers Parabel aus den 1960er Jahren zu den heutigen Strategien einer skrupellosen Machtpolitik führen würde.