Alexander-Eisenach-inszeniert-seinen-Anthropos-Tyrann

Online-Theater in 360 Grad
Rettung mit Tragödie
von Eberhard Spreng

Alexander Eisenach bearbeitet „König Ödipus“ von Sophokles. Entstanden ist eine Gedankenreise über eine dem eigenen Handeln gegenüber blinde Menschheit, die die katastrophalen Folgen ihres Tuns erkennen muss.

Deutschlandfunk Kultur Heute – 20.02.2021 → Beitrag hören

Foto: Thomas Aurin

Wir haben es in der Hand. Jede einzelne Zuschauerin und jeder einzelne Zuschauer kann mit der Computermaus oder mit Tastaturbefehlen seinen Blick steuern durch die Bildwelt, die eine 360 Grad-Kamera inmitten der gewaltigen Bühne aufnimmt: Also in den Bühnenturm mit seinen Scheinwerfern schauen, auf den Boden mit seinem Leuchtstreifen, auf eine in buntem blau und rot lackierte Ölförderpumpe, eine große Leinwand oder direkt auf die Akteurinnen und Akteure. Jede und jeder ist sein eigener Kameramensch und quadriert seinen Blick auf ein grell bebildertes Theater, das sich ganz viel vorgenommen hat: Die Tragödie des Ödipus zur Schlüsselgeschichte einer ressourcenverschleudernden Zivilisation zu erheben, die Wissenschaft als Retterin einer verblendeten Menschheit zu nobilitieren und die Tragödie als rettende Ordnungsmacht einer neuen naturnahen Philosophie zu feiern.

„Die Tragödie, die weiß sehr wohl um diese tiefe, die innige Symbiose zwischen Mensch und Natur, die Symbiose, die alles zusammenhält. Die Natur macht uns alle zu Akteuren in einem ökologischen Kreislauf, sie hat einen Platz.“

Das sagt, in einem langen Monolog der Aufführung, die Bremer Meeresbiologin Antje Boetius, die sich für eine Verschäfung des Klimaschutzes einsetzt. Sie hat sich Alexander Eisenach zu Rate gezogen, um seinem Öko-Ödipus wissenschaftliche Grundierung zu geben. Der Titelheld war dereinst bei Sophokles König einer Stadt, die von Seuchen und Plagen heimgesucht wird. Der einstige Orakelbezwinger war klug und sehend beim Blick nach außen, und blind beim Blick auf das eigene Sein. Und er war ein eifriger Ermittler der Gründe für die Umweltkatastrophen, die sein Theben heimsuchten. Ihn zum Urvater einer Menschheit zu machen, die jetzt die Plagen des Anthrophozäns zu spüren bekommt, erschließt sich hier völlig.

Mit heiligem Ernst tragen vier Akteure eine gewaltige antike Maske durch den leeren Zuschauerraum der Volksbühne und legen sie auf der Bühne ab. Bald wird sie in einem unbeobachteten Moment Augen bekommen und dann Blutspuren unter den Augen. Auch wird ihr ein gewaltiger Q-Tip in dem Mund geschoben für den Rachenabstrich zu Coronazeiten.

„Wisst ihr: Hättet ihr wirklich auf die Wissenschaft gehört, dass das Theater gar nicht leer wäre heute? Wir haben ja seit Dekaden gesagt: Man kann nicht einfach die Natur so auffressen. Man kann nicht Wildtiere, die voll ihrer eigenen Viren und Parasiten sind, wo unser Immunsystem nie gelernt hat damit umzugehen, die kann man nicht verschleppen in unsere Städte, auf unsere Märkte, in unsere Häuser. Das alles ist doch nicht zu fassen, das wir das ‚Wissensgesellschaft’ nennen. Informationstechnologie, Hightech-Strategien, Nachhaltigkeit, Innovationsförderung.“

Foto: Thomas Aurin

Ist dieser „Anthropos Tyrann“ jetzt einfach nur Thesenstück, Ökoappell im poppig plakativen Mythengewand? Nein. Denn Eisenach lotet den Raum aus, der uns vom antiken Erbe trennt. Das war ein Denken, in dem Hybris, Übermut und Anmaßung mit Scheitern bestraft werden und das Maßvolle und das Gleichgewicht Ziel der Lebenskunst waren. Fortschritt und Wachstum waren in diesem Denken keine Werte.

„Eines zu sein mit Allem, was lebt! Mit diesem Worte legt die Tugend den zürnenden Harnisch, der Geist des Menschen den Zepter weg, und alle Gedanken schwinden vor dem Bilde der ewigeinigen Welt.“

In diesem Zitat aus Hölderlins Hyperion liegt für Eisenach eine Perspektive für das Theater, also in einer Sprache, die die Grenzen des Geistes überwinden will. Seine Aufführung lotet produktiv eine Spannung aus zwischen der Weltverbundenheit der Poesie und der Unterscheidung der Wissenschaft. Und dieser Meditation folgt man in eineinhalb Stunden so gerne, dass jeder kurze Abriss des Livestreams unerträglich erscheint. Und man nimmt in Kauf, dass der eigene, selbstgewählte Ausschnitt in diesem interaktiven Bildertheater nur in etwas reduzierter Auflösung zu bekommen ist. Denn der Stream aus dem Theater überträgt ja gleichzeitig auch all das, was man selbst gerade ausgespart hat. Letztlich ist das aber Spielerei, denn das eigentliche, das wesentliche Framing des Gedanktenstroms erfolgt über Sprache und Wort. Da ist das bisschen Macht, das die Hand über Maus oder Tastatur hat, für das Erleben des Ganzen eher unbedeutend.