Philosophisches Theater
Vierte Person Singular
von Eberhard Spreng
Der Autor, Maler und Regisseur Valère Novarina entwirft Paralleluniversen, in denen zahllose allegorische Gestalten auftreten, die zwar an reale Menschen erinnern und doch immer auch besondere poetische Erfindungen sind. Sein neues Stück heißt ganz großspurig „Les personnages de la pensée“ – also etwa die „Figuren des Denkens“ und dies urinszeniert der Dichter am Théâtre de la Colline.
Deutschlandfunk, Kultur Heute – 16.11.2023 → Beitrag hören
Auf vollkommen leerer Bühne stehen zwei Gemälde. Sie sind zusammengeschoben und bilden die spiegelbildliche Ansicht einer Landschaft. Dann öffnen sie sich schlagartig und hervor tritt eine Figur im schwarzen Kleid und mit schwarzer Halskrause. Eine verrückte Schöpfungsgeschichte erzählt sie, in der unter anderem auf ein Abendmahl angespielt wird, dessen Brot aus der Sprache entsteht, die bloße Nennung des Wortes reicht. Valère Novarina hat Sprache immer schon als die einzige Quelle der Schöpfung begriffen, als Kraft, aus der alles Leben erwächst und nicht einfach nur als Mittel, mit dem man auf dem Theater Geschichten erzählt. So ist denn auch sein neues Stück „Les personnages de la pensée“ eine einzige Anrufung, ein Theater der Welterfindung:
„Mesdames et Messieurs… „Meine Damen und Herren. Jetzt und von hier an ist alles wahr! – Raum! bleib wo du bist! – Zeit! Wart auf uns!“
Akteurinnen und Akteure teilen sich vor jetzt schon vergnügtem Publikum diese Imperative für die Organisation von Raum und Zeit in einem kosmischen Kabarett. Und dabei denkt man sofort an die biblische Schöpfungsgeschichte. „Vocatif“ heißt dieses zweite Kapitelchen im Stücktext, der lateinische Fall für die Anrede. Der Sprachkünstler Valère Novarina verantwortet hier künstlerisch alles, was auf die Bühne kommt: Den Text, den abstrakten Expressionismus auf seinen neun Gemälden, die in immer neuen Konstellationen das Dekor bilden und die Regie, die immer auf Komik, auf Schmunzeln, aufs intelligente Vergnügen abzielt. In ungebremster Fabulierlust und mit Spaß an phonetischen Spielereien entsteht ein Wimmelbild der Menschheit. Die lebt in einem theatralen Paralleluniversum, in dem die ernsten Themen der uns bekannten Welt als absurde Komik wiederkehren: Ein Arbeitskampf als kuriose Show, eine politische Debatte als flotte Abfolge von verrückten Statements an einem Rednerpult:
„Il urge et il est grand temps… „Es ist höchste Zeit, dem Stillstand endlich Einhalt zu gebieten“, sagt einer. „Knüpft erneut ein Realitätsbündnis zwischen den Worten und den Dingen“, sagt ein anderer „Wählt die PDPP: Die Partei der Politprofis“ sagt eine weitere.
Mit dreieinhalb Stunden Aufführungsdauer etwas ausführlich untersucht dieses Sprachspieltheater den Bereich der öffentlichen, der politischen, der philosophischen und der religiösen Rede. Gott ist in Novarinas Grammatik die vierte Person Singular, so heißt es in einem Dialog über die Existenzfragen des Allerhöchsten. Dostojewski berühmter Ausspruch: „Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt“ wird zitiert und Jacques Lacans Bonmot gegenübergestellt: „Wenn Gott nicht existiert, dann ist schlicht gar nichts mehr erlaubt. Die Neurosen zeigen uns das jeden Tag.“
Novarinas Figuren sind allesamt metaphysische Tierchen, die bei allem Spaß und Jux eine merkwürdige Melancholie der Schöpfung erleiden. In jede und jeden von ihnen fährt die Sprache hinein wie ein Lebenselexier und treibt sie in einer paradoxen Ironie vor sich her wie der Herbstwind die gefallenen Blätter. Die Figuren bewohnen die „Chronopole“, eine Stadt aus Zeit und bemühen sich um „Humanitude“, um „Menschheitlichkeit“. Aber die Unbehaustheit in Novarinas Sprachuniversum bringt ein Aphorismus beispielhaft zum Ausdruck: „Je ne voudrais pas être à ma place“: „Ich möchte lieber nicht in meiner Haut stecken“. Alles wird erzählt, mit einer Sprache, die alles mal benannt haben will, und die am Ende doch mehr sein will als reine Aufzählung.
La Parole ne nomme pas, elle appelle… „Das Wort benennt nicht, es ruft ins Leben. Es ist ein Blitz, das den Fels spaltet. Nichts ist dem Geheimnis der Materie näher. Die Welt ist eine Sprache. Du gabst uns die Sprache, um Dir zu lauschen. – s’brent, Bridderlech s’brent“
Die letzten Laute der Aufführung entstammen nicht dem Stücktext, sondern dem Lied „Undser Shtetl Brent“, das Mordechai Gebirtig unter dem Einfluss des Antisemitismus der 1930er Jahre verfasste. So ist dieses Theater der Metaphysik dann doch ganz zum Schluss im aktuellen Weltgeschehen angekommen.