Covid-19
Ein Journal der Krise
von Eberhard Spreng
In der Coronakrise streamen viele Theater Videoaufzeichnungen ihrer Inszenierungen. Der franko-libanesische Autor und Regisseur Wajdi Mouawad geht einen anderen Weg: Er reflektiert die Krise und die Auswirkungen der in Frankreich strengen Isolation auf sein Leben und sein Denken. Sein Audiotagebuch „Journal de Confinement“ erzählt jeden Tag eine neue Geschichte aus der schmerzvollen Isolationserfahrung des Theatermachers.
Deutschlandfunk, Kultur Heute – 03.04.2020 → Beitrag hören
„Die Hände waschen, zweimal pro Stunde, 30 Sekunden lang. So sauber waren meine Hände noch nie wie in diesen Tagen der Einsamkeit.“ Mit diesen Worten beginnt die erste Folge von Wajdi Mouawads „Tagebuch der Quarantäne“. Wie es sich für einen Theatermenschen gehört, ist gleich auch von Lady Macbeth die Rede und ihrem Handwaschtick und von Pontius Pilatus und von Fragen der Schuld. Mit der ihm eigenen Mischung aus Poesie und antikenerprobter Weltsicht stürzt sich der Regisseur, der Schauspieler und Autor auf das Chaos seiner Gefühlswelten in Zeiten von Covid-19. „Die Gegenwart zieht sich zurück im Takt des Viersilbers Qua-ran-tä-ne. Wie soll ich verhindern, dass ich meinen Kopf verliere durch den puren Schrecken, wie die Brutalität der Gedanken aushalten, die mich bestürmen? Vielleicht mit der Sprache, per Internet, mit den Worten eines Menschen in Hausarrest zu anderen Menschen in Hausarrest. Einmal am Tag.“
Das „Confinement“, das der berühmte Theatermann in seinem Haus in Nogent, einem Vorort von Paris erlebt, wird zum Beschleuniger für bislang Ungedachtes. Wie als Vorbereitung auf eine neue Epoche, mischen sich Blitze von Lebenserinnerungen, aktuellen Alltagserfahrungen mit den Kindern, den Nachbarn, Frankreich, der Welt.
Der libanesische Bürgerkrieg als Krisenmuster
Man hört sich gerne ein in das Krisenjournal des einstigen libanesischen Jugendlichen, der über Frankreich nach Kanada ins Exil ging und dort mit seiner Theaterarbeit begann. Aufgrund seiner Erfahrungen kann Mouawad an das Versprechen einer kurzen Ausnahmesituation im Kampf gegen das Virus nicht glauben. „Ich kann den Satz: „In zwei Wochen ist es vorüber“ oder „In zwei Monaten ist es vorüber“ nicht glauben. Denn genau diesen Satz habe ich als Kind gehört, in Bezug auf den Krieg im Libanon. Der hat 19 Jahre gedauert. Als ich meinem sechsjährigen Jungen sagte, wegen der Epidemie sei die Schule auf unbestimmte Zeit geschlossen, sah ich über sein Gesicht ein Lächeln huschen, das ich von mir selbst kannte, damals als ich, noch ein Kind, die Bombeneinschläge hörte. Das bedeutete: schulfrei.“
Mouawad beobachtet den japanischen Ahorn vor seinem Fenster, die Tulpen und den Rasen, erkennt in ihrer Pflanzenexistenz das Gebundensein an einen Ort, erzählt von nächtlichen Spaziergängen in der Gasse hinter dem Haus bis zu einer kaputten Straßenlaterne, in deren Nähe nun der Blick in den Sternenhimmel möglich ist. Ein Kilometer Umkreis ist den Franzosen für ihren täglichen Spaziergang erlaubt. Mouawad denkt schmerzvoll an seine Freunde, verstreut in aller Welt und für ihn unerreichbar. Er, der Theatermann, würdigt das medizinische Personal, die Lebensmittelversorger und andere Dienstleister, all jene, denen jüngst auch die Schriftstellerin Annie Ernaux in einem offenen Brief an den französischen Präsidenten die Ehre der gesellschaftlichen Notwendigkeit attestierte. „Ich aber“, so sagt der Kulturmensch, „ich bin unnütz“. Für ihn wird nun das kleine Nahe und das ferne Mediale zum Material für die Suche nach Zeichen einer neuen Epoche.
Er entdeckt in Rembrandts „Opferung Isaaks“ ein Symbol für die heutige ökologische Situation. Da fährt ein Engel vom Himmel herab und fällt dem zur Tötung seines Sohnes bereiten Vater in den Arm. „Und wenn das Virus ein Engel wäre, der uns in den Arm fällt, als wir gerade das ermorden wollen, was uns das Liebste ist? Und wenn dieser Würgeengel uns etwas Ungeheuerliches sagen wollte? In den alten Schriften heißt es, nach dieser Nacht sei ein neuer Bund zwischen Abraham und seinem Gott geschlossen worden. Was für einen Bund werden wir untereinander schließen? Wie sollen wir den nennen? Wer soll den aufschreiben?“
Das Virus als himmlische Lösung für unsere Zivilisation, die im Mord an der Umwelt gipfelt? Und damit ein neues Zeitalter einleitet? Das ist natürlich naiv und spekulativ. Verzeihlich aber für einen Künstler, der sich ungeschützt ins intellektuelle Durcheinander einer Zeit stürzt, die vom Nicht-Mehr und Noch-Nicht geprägt ist.
Mutation durch Quarantäne
Im Verlaufe der zweiten Woche beobachtet der Theatermensch an sich selbst Veränderungen, die die Quarantäne in ihm anstellt. Anders als zuvor wacht er an einem Morgen auf und der jähe Schrecken über den Ausnahmezustand ist nicht mehr da. „Jetzt ist es soweit, sage ich mir, ich bin dabei zu mutieren. Jetzt bin ich quarantäneinfiziert und werde zum Mutanten, wie in Zombie-Filmen. Auch wenn da etwas in mir revoltiert, weiß ich doch, dass ich vielleicht sogar eine gewisse Freude an dieser neuen Gewohnheit entwickeln werde. Und wahrscheinlich werde ich mich , werden wir alle uns in zehn Jahren an diese gute alte Zeit erinnern, als wir etwas großes, intensives erlebten, als wir dabei waren, die Zeit neu zu erfinden. Alles wird zu Nostalgie – auch die schlimmste Qual. Ich glaube aber, dass wir diesem Komfort des Ausnahmezustandes widerstehen müssen, wach bleiben müssen.“
Die Dialektik von Alltag und Ausnahme. Wir alle erleben sie im Moment täglich. Wajdi Mouawads Stimme wird, auf der Webseite des Théâtre de la Colline, weiter zu hören sein, an jedem Werktag neu. Hoffentlich wird das keine unendliche Geschichte.