Vanessa-Springora-Die-Einwilligung-und-die-Literatur-der-Befreiung

Drei Aufführungen in Paris
Literaturen der Befreiung
von Eberhard Spreng

Vanessa Springoras internationaler Erfolg „Die Einwilligung“ schildert die Befreiung aus der traumatisierenden Affäre der jugendlichen Autorin und Lektorin mit dem Pädophilen Gabriel Matzneff. Am Théâtre de la Ville kam dies nun auf die Bühne. Es ist ein gelungenes Beispiel für Selbstheilung durch Literatur. Dieses Motiv lässt sich auch in anderen, in Paris derzeit gezeigten Arbeiten wiederfinden: In der neuen Arbeit des kongolesischen Theatermachers Dieudonne Niangouna und dem Gastspiel „Depois do silêncio“ der Brasilianerin Christiane Jatahy.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 30.11.2022 → Beitrag hören

 

Foto: Christophe Raynaud de Lage

Am Aufgang zum Pont des Arts, mitten in Paris, klebt seit kurzem eine Anklage: „Gabriel Matzneff, der pädokriminelle Serienvergewaltiger ist dank Verjährung ein freier Mann.“ Und auch wenige Kilometer weiter westlich wird Klage erhoben. Im Espace Cardin des Théâtre de la Ville steht die Filmschauspielerin Ludivine Sagnier auf der Bühne und verkörpert ein junges Mädchen, ein alter ego der heutigen Verlagslektorin und Autorin Vanessa Springora. Der berühmte Literat Gabriel Matzneff hatte die Minderjährige in den 1980er Jahren verführt, ihr Liebes- und Anerkennungsbedürfnis ausgenutzt und die ungleiche Beziehung zu einer göttlichen Liebe stilisiert.

„Auf Knien verspricht er mir unter Tränen, mit allen seinen Maitressen zu brechen, sagt, dass er nie so glücklich gewesen sei, unsere Begegnung einem Wunder gleichkomme, einem Geschenk der Götter.“

In ihrem klugen autobiografischen Buch „Le Consentement“ hat Vanessa Springora die Affäre mit dem durchtriebenen Gabriel Matzneff geschildert, der seine Neigung zu pubertierenden Jugendlichen schon 1974 in „Les moins de seize ans“ in einer Art Fibel für Pädophilie gepriesen hatte. So etwas galt in linken Intellektuellenkreisen damals als chic. Das „Einverständnis“ war ein gesellschaftliches. Was die Affäre mir der Minderjährigen vor allem zu einem unerträglichen Missbrauch machte, war die literarische Ausbeutung, die Matzneff mit ihr betrieb.

„Er hat unsere Geschichte in Fiktion verwandelt. Mein Leben ist mit einem Federstrich ausgelöscht. Er hat mich zu einer fiktiven Figur gemacht, bevor mein Leben Gestalt annehmen konnte und verurteilte mich zur Erstarrung in einem Gefängnis aus Worten.“

Hinter einer milchigen Gaze steht die Actrice wie ein Schemen, nur ihre Hände zeichnen sich scharf ab, ausgesteckt in Richtung Publikum. Für Momente wird sie wirklich zum Bild eines Menschen, der hinter Papier eingesperrt ist und heraus will. Dass Literatur, sonst heilsame Ordnungsmacht, auch Vergewaltigung und Gefängnis sein kann, sah und hörte man selten so deutlich. Und man begreift, dass die Emanzipation vom Fremdbild, die Vanesssa Springora in ihrem Buch gelingt, genau da angreifen muss, wo die Gefangenschaft begann: Auf die Literatur der Unterdrückung antwortet sie mit der Literatur der Befreiung. Sie verstehe jetzt, schrieb Springora gegen Ende ihres Textes, warum primitive Völker Angst vor Bildern haben, die andere von ihnen machen. Sich des Bildes eines anderen zu bemächtigen, könne heißen, seine Seele zu stehlen.

Foto: Nurith Wagner-Strauss / Wiener Festwochen

Im genauen Bewusstsein dieser Problematik arbeitet die brasilianische Regisseurin Christiane Jatahy mit den Nachfahren von Sklaven im Nordosten Brasiliens. „Depois do Silêncio“, uraufgeführt bei den Wiener Festwochen, ist ein szenisches Ritual, das sich gegen toxische Männlichkeit à la Bolsonaro richtet, gegen Landraub und strukturellen Rassismus. Es ist, im freien Floaten der Medien zwischen Literatur und Theater das Gegenteil zu der Manipulation und autoritären Deutungshoheit in der Literatur eines Gabriel Matzneff.

Geschichten können nicht nur verletzen, Geschichten können auch heilen. Davon ist auch der kongolesisch-französische Theatermacher Dieudonné Niangouna fest überzeugt, der seine neue Arbeit „Portrait Désir“ seiner Großmutter widmet. Die hatte ganze Nächte durch das Dorf mit Geschichten unterhalten.

„De vingt heures à six heures du matin. C’était des histoires interminable, entrecoupées de chants, de devinettes, de proverbes, de questions qu’elle renvoyait au public.“

Foto: Christophe-Raynaud-de-Lage

Niangounas Großmutter war initiiert in eine doppelte Kunst: Sie war zugleich Guérisseuse und Raconteuse, Heilerin und Erzählerin. Dass das heilsame Narration aber auch blutig sein kann, lässt der mit vier Stunden zwischen Farce und Tragödie mäandernde Abend mit Ausflügen in den griechischen Mythos spüren: Mit Medea zum Beispiel. Niangouna ist ein afrikanischer Universalist, bedient sich frei aus dem Geschichtenschatz des afrikanischen und des europäischen Kontinents, verknüpft all das locker mit dem amüsierten Blick auf die französische Gegenwart. Er hält nichts vom Kampf gegen kulturelle Aneignung und dem Rückzug ins Identitäre. Aber seine energiereiche, musikalisch unterlegte Revue verliert leicht den Faden, zerbröckelt zur Sammlung, lässt aber am Schluss selbst die schlimmsten Erfahrungen von Selbstverlust immer wieder in Großmutters weitem Herzen zusammenfließen.