Theaterstudie in Frankreich
Warum kommen Sie nicht mehr ins Theater?
von Eberhard Spreng
In einer großen Studie wurde das Publikum der französischen Schauspielbühnen befragt – mit einigen überraschenden Ergebnisssen
Tagesspiegel, Kultur – 19.11.2022
Zu woke! Zu aktivistisch! Zu diskursiv! In den Sommermonaten hagelte es im deutschen Feuilleton Vermutungen über die Gründe für das Wegbleiben des Theaterpublikums in der ersten Spielzeit nach den Corona-Lockdowns. Fast alle verorteten das Problem in den Spielplänen der Häuser. Dabei blieb aber die Frage unbeantwortet, wieso etwa eine in die Irre gehende Direktion in Dortmund den Abonnentenschwund in Frankfurt erklären soll. Das Problem ist tiefgreifender und betrifft auch die Theaterbetriebe außerhalb Deutschlands. In Frankreich, wo das Verhältnis zwischen der Theaterkritik und den Theatern noch von Polemik ungetrübt ist, hat die Debatte um strukturelle Probleme des Publikumsverlustes begonnen.
Die dort noch sehr vielfältige und in der Metropole Paris geradezu üppige Privattheaterszene kennt Konzept-Regie und Diskurstheater überhaupt nicht und hat dennoch einen vierzigprozentigen Verlust ihres traditionellen Publikums zu beklagen. Dort stehen Well-Made-Plays und populäre Komödien auf dem Spielplan, gespielt unter anderen von Stars aus Film und Fernsehen, gelegentlich inszeniert von den Regiestars der 68-er Generation. Nichts also, was das Publikum verschrecken könnte.
Akuter Handlungsbedarf für Privattheater
Da die Privattheater, anders als die öffentlich geförderten Häuser, fast vollständig von Kasseneinnahmen abhängig sind, besteht für sie akuter Handlungsbedarf. Eine von der Association pour le Soutien du Théâtre Privé in Auftrag gegebene Studie hilft das Problem zu begreifen, da dort auch Menschen befragt wurden, die sich nicht mehr auf den Weg ins Theater machen. Die Ergebnisse haben auch für öffentlich geförderte Häuser Aussagekraft. Alle haben begriffen, dass die Coronapandemie bislang langsam verlaufende Veränderungen in den Publikumsgewohnheiten rasant beschleunigt hat. Einer der Gründe für das Ausbleiben des Publikums erklärt der Präsident eines anderen Privattheaterverbandes: Bertrand Thamin vom Syndicat National du Théâtre Privé weiß, dass die Vorhänge in der Seinemetropole zu spät hoch gehen. Das führt dazu, dass Menschen kaum noch erreicht werden, die in der Banlieue leben und spät abends keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr nehmen wollen.
21 Uhr als klassischer Beginn der Aufführung im Privattheater, 20 Uhr 30 bei den staatlich subventionierten Häusern, das dürfte es in Zukunft nicht mehr geben. Begründet waren sie im Privattheater allenfalls durch den in einigen Häusern praktizierten Doppelbetrieb der Säle mit einer kleinen Aufführung um 18:00 und einer großen später am Abend. Viele Privattheater fangen jetzt um 20 Uhr an, eine Stunde früher. Fürs Publikum, das aus der Innenstadt mit der RER durch die Vororte nach Hause tuckert, macht es einen Unterschied, ob das zwischen zehn und elf geschieht, oder zwischen elf und Mitternacht. Auch die Privattheater der Provinz folgen dem Vorbild der Metropole.
Auch subventionierte Häuser müssen dazulernen
Auch in einem der staatlich geförderten Kulturhäuser in der Banlieue werden Wege vom und zum Theater derzeit diskutiert. Die breit angelegte Studie des Privattheaterverbands liefert auch für die öffentlichen Theater wertvolle Anhaltspunkte: 48% der Befragten gaben an, nach Corona nicht mehr ins Theater zu gehen und 23% tun es seltener. Auch hier bestätigt sich: Einer der Gründe für das Ausbleiben des Publikums sind weite Wege. Am Kulturhaus MC93 im nordöstlichen Vorort Bobigny arbeitet David Sultan an neuen Konzepten. „Es gibt den Wunsch nach kürzeren Wegen hin zur Kunst. Wir arbeiten hart daran, ein Publikum zu gewinnen, das in einem Umkreis von fünf bis sieben Kilometern wohnt. Die Bereitschaft zur Mobilität ist nach der Pandemie zurückgegangen.“ Die Strategie des MC93 für die bessere Publikumsbindung ist dem Kinobetrieb entlehnt. Statt komplizierter Abonnementsmodelle bietet das Theater im sozial schwachen Departement Seine-Saint-Denis eine Monatsflatrate an. „Der Pass Illimité erlaubt den Zuschauern die freie Datumswahl für alle Aufführungen der Saison. Er kostet je nach Wohnort und sozialem Status monatlich 7, 10 oder 14 Euro. Die Idee: Die Neugier soll gefördert werden und die Bereitschaft zum Risiko.“
Das MC93 macht anspruchsvolles Programm mit klarem Bewusstsein für seinen diversen Programmauftrag im von Migration geprägten Vorort. Es reagiert mit seinem Abonnements-Experiment auf eine auch in der Publikumsstudie bestätigte Beobachtung: Der mit Abstand wichtigste Grund für das Fortbleiben des Publikums ist ein zu hoher Eintrittspreis. 68% der Befragten finden den Theaterbesuch zu teuer. Andererseits bekundeten die 29% der Menschen, die nun öfter ins Theater gehen als vor der Pandemie, sie wollten ihre Isolation überwinden, ihre Emotion mit anderen teilen. Binge-Watching und Couchunterhaltung durch Netflix und Konsorten will ein Teil des Publikums hinter sich lassen. Aber dieses zum Teil neue Theaterpublikum fordert von den Häusern mehr als nur kulturelle Unterhaltung. Die Kritikerin der Tageszeitung Le Monde, Brigitte Salino, sieht neue Bedürfnisstrukturen auf die Theater zukommen: „Die Theater müssen Lebensorte werden, Treffpunkte, Wohlfühlräume. Letzten Endes müssten sie eigentlich den ganzen Tag geöffnet sein. Die Leute wollen nicht mehr nur einfach gediegen Theater konsumieren.“
Die Erwartungen an den Theaterbesuch ändern sich
Auch Kultursoziologen beobachten ähnliche Trends: Publikumsclubs und Partizipationsmodelle werden erwartet. So will das Publikum etwa an der Spielplangestaltung beteiligt oder regelrecht in der Entstehung von Projekten eingebunden werden, solange die Künstler:innen als Artists in Residence an den Häuser arbeiten.
Die französische Studie belegt diese Vermutungen: Das klassische Theaterpublikum, in dem die Generation der Baby-Boomer und Frauen stark vertreten waren, wird durch eine neue Theateröffentlichkeit abgelöst: Das Durchschnittsalter sinkt auf 41,2 Jahre und 58% der Besucher sind männlich. Dass sie auf die Kulturangebote fast gleichermaßen über klassische Medien, soziale Netzwerke und Mundpropaganda aufmerksam werden, ist weniger überraschend. David Sultan vermutet einen Trend: „In einer Gesellschaft, in der Kultur ein Akt individuellen Konsums geworden ist, werden zum Ausgleich kollektive Erfahrungen immer wichtiger: Es geht darum, mit der Bühnenkunst zugleich auch Räume für die Erfahrung von Gemeinschaft zu schaffen. Wir können den Publikumserfolg künftig nicht mehr ausschließlich an der Platzausnutzung bemessen.“
Zu spät! Zu teuer! Zu weit weg! So lautet der statistisch unterfütterte Befund für die Schwundkrankheit in französischen Theatersälen. Langsam, so sagt die Szene derzeit einhellig, kommt das Publikum zurück und die Säle füllen sich wieder. Aber das sind nicht mehr dieselben wie vor der Pandemie.