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Debattenreihe in der Akademie der Künste
Zwischen Kunst und Politik
von Eberhard Spreng

„School of Resistance“ nennt Milo Rau eine Online-Diskussionsreihe, die er seit dem Mai 2020 veranstaltet. Jetzt verdichtet sich das Projekt an der Akademie der Künste zu einer Filmretrospektive und Debattenreihe. Wie sieht „Kunst als transformatorische, realitätsschaffende Praxis“ aus?

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 28.02.2021 → Beitrag hören

Foto: Thomas Müller

Anstoß für die Debatten über das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit und die Dialektik von politischem und künstlerischem Aktivismus waren in den letzten Tagen immer wieder die Dokumentarfilme Milo Raus, die parallel zu seiner Theaterarbeit entstanden sind. Allen voran das „Kongo-Tribunal“, ein fiktives Gerichtsverfahren über Vertreibung und Massaker der Bevölkerung im Kongo. Dazu sagt Milo Rau.

„Ich würde das utopische Dokumentation nennen. Erst schaffe ich eine Situation, und dann wird sie gefilmt, so als dokumentierte man die Wirklichkeit. Vielleicht ist das der Ort der Kunst: Ein Moment, in dem Fiktion in eine neue Wirklichkeit umschlägt, die sich wiederum in eine andere Fiktion verwandelt.“

Was geschieht in der Politik, wenn sich die Kunst politischer Themenfelder bemächtigt? Und was passiert mit der Kunst der Darstellung, wenn sie sich unmittelbar mit Politik befasst? Zu dieser Dialektik gab der Architekt und Schriftsteller Eyal Weizmann eine grundsätzliche Einschätzung.

„Es gibt keine Darstellung als exakte Kopie der Realität. Und der Graben zwischen der Realität und dieser Art der Kopie ist das, was wir Kultur nennen, das was den Entscheidungen des Künstlers unterworfen ist.“

Die Bilder von der Verurteilung und Hinrichtung des rumänischen Despoten Nicolae Ceaușescu und dessen Frau Elena haben sich ins kollektive historische Gedächtnis eingebrannt. Wenn Milo Rau dieses Ereignis theatral und filmisch nachspielen lässt, sucht er nach der Geschichte unterhalb der Bilder. Wenn er hingegen fiktive Gerichtsräume herrichtet und dort dann Verfahren stattfinden lässt, sucht er nach Bildern für die verborgenen Geschichten der Ausbeutung des globalen Südens. Dann wird aus der blutigen, politischen Wirklichkeit ein Gegenstand der Kunst. Die Philosophin Juliane Rebentisch:

„Es geht hier um die Reflexion der Frage, wie wir uns Wirklichkeit vorstellen und wie wir sie darstellen. Das ist das Potential des Schauspiels, das auf der rein politischen Ebenen als Schwäche verstanden werden kann. So als würde alles vom So-Als-Ob abgeschwächt, wenn es in die Sphäre der Kunst gerät. Dann sind eben auch Leute, die im wirklichen Leben Richter sind, mit Milo Rau nur noch Schauspieler. Aber auch dieser Umstand hat eine politische Dimension.“

Für die unmittelbar an den Theater- und Filmaktionen des Schweizer Regisseurs Beteiligten ist die Trennung von Kunst und Politik weniger relevant. Ein berührendes Zeugnis legt hierfür Jean-Louis Gilissen im Film „Kongo Tribunal“ ab. Er ist Menschenrechtsanwalt im wirklichen Leben, Menschenrechtsrichter bei Milo Rau.

„Das ist eine Frage des Engagements. Man lebt vor sich hin, heiratet, kriegt Kinder, arbeitet und verdient Geld. Gut und schön, aber das reicht nicht, denn was um mich herum passiert, kann ich nicht akzeptieren.“

Im Kampf für globale Gerechtigkeit

Das ist polisches Engagement als künstlerische Intervention. Und die künstlerische Intervention schafft, wie der Soziologe Harald Welzer betonte, Vorbilder für Institutionen, die es nicht gibt, aber geben müsste. Globaler Kapitalismus bräuchte eben auch: Eine globale Gerichtsbarkeit. Ist Raus Kunst also doch nur Hilfsmittel in politischen Kampagnen? In der Gesprächsreiche über die Ästhetik des Widerstandes traute der junge Schriftsteller Édouard Louis, dessen Roman „Wer hat meinen Vater umgebracht“ international Schlagzeilen machte, der Kunst weit größere Potentiale zu:

„Das Schöne an der Kunst ist ihre Fähigkeit, ein Kollektiv entstehen zu lassen, das noch gar nicht weiß, dass es eines ist. Wie viele Frauen haben sich bei ihrer einsamen Lektüre des ‚anderen Geschlechts’ von Simone de Beauvoir selbst erkannt. Wie viele schwarze Menschen, die Rassismus ausgesetzt waren, haben sich ihre Situation mit der Lektüre von Frantz Fanon oder Texten der Black Panters bewusst gemacht?“

Vielleicht liegt Milo Raus großer internationaler Erfolg in genau diesem Umstand: Er schafft symbolische Räume für ein Bewusstsein, für das es noch keine institutionellen, rituellen oder sozialen Praktiken gibt. Aber: Ist er nun Künstler oder Politiker?

„Meine ersten Arbeiten als Regisseur fanden nicht in Theatern statt. Ich habe große Demonstrationen der sozialistischen Jugend organisiert, damals in Zürich und in Genf. Das waren meine ersten künstlerische Übungen als Regisseur, der eine soziale Plastik modelliert.“