MeToo-im-franzoesischen-Theater

MeToo im französischen Theater
Am Rand des Ruins
von Eberhard Spreng

Die französische MeToo Debatte macht in den Medien seit Wochen Schlagzeilen. Vor allem im Film. Jetzt erlebt sie auch im Theater eine dramatische Entwicklung: Durch die Untätigkeit der Politik konnte ein wichtiges Theater im südöstlichen Großraum Paris an den Rand des Ruins geraten.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 22.12.2019 → Beitrag hören
Deutschlandfunk Kultur, Fazit – 22.12.2019

Jean-Pierre Baro mußte im Theater von Ivry aufgeben
Jean-Pierre Baro (Foto: Ambroise Tézenas)

Als Jean-Pierre Baro vor einigen Tagen bekannt gab, er lege die Direktion am Théâtre des Quartiers d’Ivry nieder, fand eine MeToo Affäre ihren vorläufigen Höhepunkt, die sich zwar im Schatten der Debatten um MeToo im französischen Kino abspielt, im Kern aber deutlich dramatischere Züge trägt. Im März 2019 war ein Gerichtsverfahren eingestellt worden, in dem der gerade erst berufene Leiter des Theaters von einer langjährigen Mitarbeiterin wegen Vergewaltigung im Jahre 2011 angeklagt wurde. Dann folgte eine flammende Anklage auf der Investigativ-Plattform Mediapart, die Jean-Pierre Baro schwer belastete. Im September intervenierten feministische Aktivistinnen bei der öffentlichen Spielzeitvorstellung. Dann wurde das Theater boykottiert, die Politik schwieg; der im französischen Theater einflussreiche Straßburger Intendant Stanislas Nordey zog vor kurzem mit einem klaren Appell an die Kulturpolitik in der Tageszeitung „Le Monde“ die Notbremse. „Ich habe mich in die Affäre um das Théâtre des Quartier d’Ivry eingeschaltet, weil die Politik mit ihrer Untätigkeit zur Blockade und dem Schaden des Theaters, seiner Angestellten, Zuschauer und seines Direktors geführt hatte. Dieses schuldhafte Schweigen der offiziellen Stellen, die offenkundig von der Geschichte in Verlegenheit gebracht worden waren, musste aufhören, denn in einem solchen Fall müssen sie sich verhalten.“

Die Kulturpolitik hatte den Schauspieler und Regisseur Jean-Pierre Baro, Sohn eines senegalesischen Immigranten, berufen, damit er mit seinen postmigrantischen Theateransätzen und seinem Zugang zur Stadtrand-Bevölkerung eine Theaterarbeit fortsetzt, die Postkolonialismus thematisiert, modernen Rassismus, Apartheid, Diversität. Dann der Schock, der viele Menschen der französischen Theaterszene aufwühlte. „Le Monde“-Journalistin Brigitte Salino hat den in diesen Wochen hochkochenden Fall verfolgt und über ihn geschrieben. „Im Fall Jean-Pierre Baro kommen alle Aspekte der MeToo-Debatte vor. Entscheidend ist aber Folgendes: Endlich reden die Frauen, aber das tun sie, um ihrer beruflichen Situation nicht zu schaden, anonym. Adèle Haenel hat das in ihrem Mediapart-Interview erklärt: Sie sagte, dass sie sich nur aufgrund ihrer Berühmtheit ausreichend mächtig fühle, in eigener Sache zu sprechen.“

Fast alle Verfahren werden eingestellt

Nachdem ihr Verfahren eingestellt worden war, hatte die ehemalige Baro-Mitarbeiterin dem Journalisten Jean-Pierre Thibaudat bei dessen Recherche zu sexuellen Übergriffen im französischen Theater intime Details geschildert und darum gebeten, dass ihr Name nicht genannt werde. Der ehemalige Starkritiker im Rentenalter unterhält einen bei Mediapart gehosteten Theaterblog und verband in seiner Medienanklage den Fall Baro mit dem Fall des wegen sexueller Erpressung belasteten Schauspiellehrers Guillaume Dujardin in Besançon, dessen Verfahren noch nicht entschieden ist. „In einer übergroßen Mehrheit der Fälle stellt die französische Justiz die Verfahren ein. Deshalb wenden sich die Frauen an die Presse. Das bringt uns Journalisten in eine komplizierte, ja heikle Lage. Wir sollen zum Instrument der Selbstjustiz werden, und das ist nicht unsere Aufgabe.“

Der Fall Jean-Pierre Baro spaltet die französische Theaterszene und die französische Gesellschaft. Baros ehemaliger Schauspiellehrer hält die Vorwürfe für eine feministisch übermotivierte Hexenjagd; zahlreiche Kolleginnen und Kollegen haben sich in einem offenen Brief hinter Baro gestellt und beklagen Thibaudats „Blogjustiz“ und die durch sie ausgelöste „Lynchjustiz“ in sozialen Medien. Jean-Pierre Baro wollte sich selbst hier nicht äußern; die feministische Aktionsgruppe „La Barbe“, die am Theater in Ivry interveniert hatte, reagierte nicht auf die Bitte um Stellungnahme zu Baros Rücktritt.

États Généraux am Theater in Straßburg geplant

Nachdem der Streit mittlerweile ein Theater an den Rand des Abgrunds gebracht hat, das Theaterikone Antoine Vitez einst gründete und in dem Regiestar Patrice Chéreau eines seiner emblematischsten Stücke inszenierte, will der Straßburger Intendant Stanislas Nordey im neuen Jahr in seinem Theater ein breites Diskussionsforum initiieren. „Die Affäre offenbart auch einen Mangel an Verständnis für die Natur der heutigen Mann-Frau-Situation in künstlerischen Berufen und dem Rest der Gesellschaft. Deshalb werde ich im kommenden Frühjahr in meinem Theater in Straßburg eine Auftaktveranstaltung für die Debatte Männer-und-Frauen-im-Theater organisieren.“

Verändern muss sich außer Verhaltensmustern vieler Männer im Theaterbetrieb vor allem die französische Justiz. Da kann Nordeys „États généraux hommes-femmes“ helfen, die Generalstände der Republik von Frauen und Männern.