Streik in Frankreich
Die Petition der Dreihundert
von Eberhard Spreng
Entfremdung zwischen Volk und Präsident: Der Einsatz des umstrittenen Verfassungsartikel 49 und Emmanuel Macrons als herablassend empfundener Fernsehauftritt haben das Land in eine tiefe Vertrauenskrise gestürzt. Die Kulturszene war eher passiv, aber das ändert sich gerade. Eine Petition richtet sich an den Präsidenten.
Deutschlandfunk, Kultur Heute – 24.03.2022 → Beitrag hören
„Donc cette réforme accentue encore… bouh…“
Freitag vor einer Woche, im Konzertsaal von Lyon, eine bizarre Szene vor einem Konzert. Ein Musiker wird von Teilen des Publikums ausgebuht, während er für ein paar Minuten seine Ablehnung der französischen Rentenreformpläne begründet. „Musik!“ rufen einige, „Für sowas sind wir nicht gekommen!“ andere. Das konservative Konzertpublikum hat Mühe, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass der Protest gegen Macrons Rentenreformpläne und der größte französische Streik seit Beginn des neuen Jahrhunderts nun auch die Kultur erreicht. Ein Schwerpunkt ist Lyon, die zweitgrößte französische Metropole.
„Retrait ! Retrait ! de la réforme des retraites…“
Eine Schar von Aktivisten besetzt nach einer Demonstration das Musée des Beaux Arts in Lyon. Außerdem bestreikt das Ballet der Oper zwei seiner Gastspiele in parisnahen Créteil. Aber fast alle anderen französischen Bühnen blieben während der ersten drei Streikwochen geöffnet und spielten nach den angekündigten Programmen. Man durfte sich sogar fragen, warum die Kultur, die ansonsten gerne in aktuellen gesellschaftlichen Debatten Position bezieht, so zurückhaltend auf die größte sozialpolitische Herausforderung der letzten Jahrzehnte reagiert. Sicher: Autoren wie Édouard Louis hatten mit Stücken wie „Wer hat meinen Vater umgebracht“ genau jene Gesetzesväter der letzten Jahre gebrandmarkt, die im Dienste eines neoliberalen Umbaus in Frankreich dem immer größer werdenden armen Bevölkerungsteil das Leben immer schwerer gemacht haben. Schon vor Jahren war Sonnentheaterkönigin Ariane Mnouchkine mit ihrer Truppe schauwirksam in schon damals stattfindenden Demonstrationen gegen Rentenreformpläne mitmarschiert.
Metoo-Ikone Adèle Haenel engagiert sich
Vor wenigen Wochen hat sich nun auch die im Zusammenhang mit den Metoo Debatte als Medienikone profilierte Actrice Adèle Haenel vor Studentinnen geäußert.
„Wir sind nicht einfach nur gegen ihr Scheißsystem, wir sind dabei, eine neue Welt zu erfinden. Streik ist Machtkampf. Wenn wir in der Rentenfrage gewinnen, ändern wir auch die Machtverhältnisse und beenden diesen politischen Monolog der Bourgeoisie.“
Adèle Haenel intervenierte hier allerdings weniger als Künstlerin denn als feministische Aktivistin, um gegen die besondere Benachteiligung von Frauen durch die Rentenreformpläne zu protestieren. Sie ist allerdings nun auch Mitunterzeichnerein einer Petition von ca. dreihundert Künstlerinnen und Künstlern von Film und Bühne. Diese ist auf der Plattform change.org veröffentlichet und richtet sich an den französischen Präsidenten. Zu den Erstunterzeichnerinnen gehört Juliette Binoche; in der Liste findet man allerdings auch die Namen vieler französischer Theaterregisseurinnen und Regisseure, die für ein politisch engagiertes Theater stehen. Das „Collectif Cinema Spectacle“ zeichnet verantwortlich. Die in der Tageszeitung Libération abgedruckte Petition fasst noch einmal Kernsätze der Kritik an der Rentenreform zusammen. Sie erinnert an die Prekarität von Frauen und älteren Darstellenden und fordert den Stop der Reformpläne.
Einer der Initiatoren ist der Filmregisseur Gilles Perret, der in den vergangenen Jahren unter anderem einen Dokumentarfilm über den linken Nachwuchspolitiker François Ruffin und die Gelbwestenbewegung vorlegte und den Spielfilm „Reprise en Main“ über die Selbstermächtigung eines Arbeiters in einem von einem Hedgefond bedrohten Betrieb.
„Ich mache kein prätentiöses Kino. Formal ist das vielleicht nicht revolutionär, aber ich nehme für mich in Anspruch, dass dieses Kino populär ist, volksnah, offen für alle, ohne sich für etwas besseres zu halten“.
Neben Gilles Perret ist der Generalsekretär der Kulturabteilung der einst kommunistischen CGT- Gewerkschaft, der Kameramann Denis Gravouil, Mitinitiator. Die Gewerkschaftshandschrift ist unverkennbar.
Neben den vielen Namen, die man auf der Unterschriftenliste findet, sucht man nach vielen anderen vergeblich. Von einer branchenweiten, militanten Solidarisierung der Film- und Theaterszene kann man derzeit nicht sprechen und so haben sich auch am gestrigen Aktionstag durchaus nicht alle Theater Frankreichs am Streik beteiligt.