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Frankreich in Aufruhr
Die Krise der politischen Kultur
von Eberhard Spreng

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bestreitet die Legitimität einer politischen Instanz, die aus der Geschichte der französischen Republik nicht wegzudenken ist: Die Straße. Kultur, Wissenschaft und Medien beeteiligen sich nun an einer heftigen Debatte um Fragen der politischen Form, die das Streiten um den ökonomischen Aspekt der Rentenreform abgelöst haben.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 07.04.2023 → Beitrag hören

Foto: François Goglins/wikicommons

„Hollande, Valls, El Khomri, Hirsch, Sarkozy, Macron, Bertrand, Chirac.“ Wie Peitschenhiebe knallt der Schauspieler und Regisseur Stanislas Nordey die Namen führender Politiker mit Regierungsverantwortung in den Theatersaal. Es sind die Namen der Gesetzesväter- und Mütter, die die neoliberale Reformpolitik der letzten Jahre in Frankreich geprägt haben. Der Streit um die Renten ist schon seit Jahren virulent, nur das aktuelle Ausmaß erreicht eine neue Qualität. Édouard Louis’ Theaterstück „Wer hat meinen Vater umgebracht“ von 2019 war rückblickend, lässt sich aber auch lesen als das Stück der Stunde, wenn es um Folgen der Sozialpolitik für das Leben der einfachen Leute geht. Stanislas Nordey hatte in diesem Kontext nie Zweifel an seiner Aufgabe als „engagierter Intellektueller“ und sieht sich in einer langen Tradition.

„Ich habe vor kurzem noch einmal ein Interview gelesen, das Simone de Beauvoir der Tageszeitung Le Monde einmal gegeben hat. Man fragte sie, warum sie all diese Resolutionen unterschreibe und soviel demonstriere? Was dies bringe? Sie sagte, es hilft nicht immer, aber gelegentlich schon.“

Kultur und Wissenschaft taten sich zunächst schwer, eine Haltung zu den Kämpfen um Präsident Macrons Rentenreform zu finden. Eine, die mit ihrer Theatertruppe immer schon aktiv an den Demonstrationen teilnahm und diesmal auch dabei ist, ist die Sonnentheaterprinzipalin Ariane Mnouchkine.

„Es ist wichtig, sein Lager zu wählen. Gerade in einer Epoche, in der es als clever gilt, sich nicht festzulegen. Aber ich glaube, wir müssen wissen, zu welchem Lager wir gehören.“

Eine allenthalben konstatierte „Clivage“, die Spaltung der Gesellschaft habe die Rentenreformpläne provoziert und zugleich eine Renaissance der Gewerkschaften als Motor sozialer Bewegungen. Darüber freut sich der Gründer der Investigativ-Plattform Mediapart, Edwy Plenel, im Sender France Culture.

“Nun schon seit dem 19. Januar erleben wir die massivsten Demonstrationen der französischen Geschichte seit dem Ende des 2. Weltkrieges. Eine nie da gewesene Einheit. Es geht um ein gemeinsames Thema: die Gleichheit, den ersten Artikel in der Erklärung der Menschenrechte.“

Alle Welt wundert sich über den heftigen französischen Widerstand gegen eine Rentenreform, die ansonsten in anderen europäischen Ländern fast geräuschlos vonstatten geht. Der Spielfilmregisseur Robert Guédiguand hat schon oft das Leben der so genannten einfachen Leuten auf die Leinwand gebracht, aber auch das Porträt eines großen Präsidenten, Francois Mitterrand. Er vermutet alte, kulturelle Einflüsse im politischen Verhalten der Französinnen und Franzosen.

„Franzose zu sein heißt, sich eher im 18. als im 19. Jahrhundert zu verorten, bei Don Juan und der Libertinage. Das heißt: Was auch immer geschieht, ich lasse mich nur von meinen Ideen leiten. Und: Macht auszuüben und andere spüren zu lassen, ist spannender als einfach nur Macht zu haben.“

Die Frage der Legitimität

Präsident und Volk werfen sich gegenseitig vor, illegitim Gewalt auszuüben. Seit dem der problematische Verfassungsartikel 49.3 zum Einsatz gebracht wurde, um die Reform ohne Parlamentsentschluss durchzuboxen, spricht die Mehrheit der Bevölkerung gerne von einer ökonomisch ungerechten und demokratisch illegitimen Reform. Der Historiker Pierre Rosanvallon klärt über zwei Formen des Legitimitätsbegriffs auf.

„Legitimität ist erst einmal ein juristischer Begriff. Der gewählte Regierende ist legitim, egal wie klein seine Mehrheit ist. Daneben gibt es aber noch eine andere Legitimität. Eine moralische! Ein Geflecht von Verbindungen mit der Gesellschaft. Der Soziologe Émile Durkheim sagte, es brauche eine Gemeinschaft der Regierenden und der Gesellschaft.“

Diese Durkheimsche „Communion“ hat Macron in den Augen der Bevölkerung verspielt. Einer der Gründe hierfür ist das Vorgehen der Ordnungskräfte. Dazu gehört systematische Einschüchterung und Drohung.

„Dein Gesicht merk ich mir fürs nächste Mal“, sagt ein Polizist in einer völlig ruhigen Seitenstrasse zu einem jungen Mann in einer kleinen Gruppe und fährt fort: „Dann steigst du nicht in den Polizeibus ein, sondern kommst mit Tatütata ins Krankenhaus.“

Frankreichs Sonderweg bei Fragen der Polizeigewalt

Das von einem schwarzen Studenten heimlich aufgenommen Audio lief in Frankreich über alle Sender und Social-Media-Kanäle und ist weiterer Anstoß für eine Debatte, an der Konfliktforscherin Elsa Dorlin seit Jahren teilnimmt.

„Die Polizeigewalt bringt die Menschen in einen Zustand der Wehrlosigkeit. So wird die politische Protestbewegung zu einem Akt der Selbstverteidigung. Was mich jetzt interessiert, ist die Frage: Wer kann eigentlich noch das Gefühl haben, verschont zu werden?“

Elsa Dorlin bedauert eine französische Polizeitaktik und Bewaffnung, die darauf abzielt, Menschen vom Demonstrieren abzuschrecken. Sie unterscheidet sich deutlich von der ansonsten in Europa verfolgten Strategie der Deeskalation. So sind friedliche Demonstrierende auch fern der immer schon gewalttätigen Black Blocs nicht vor Verletzungen durch Polizeieinsätze sicher. Jetzt zählen die Medien die Verletzten auf beiden Seiten. Und der Publizist Éric Fottorino ärgert sich über Emmanuel Macron.

„Dieser Mann hat uns eine neue Welt versprochen und jetzt bekommen wir eine alte. Eine autoritäre Welt, geprägt von verbaler Gewalt und von polizeilicher Gewalt. Immer wenn es für Macron ungemütlich wird, verschärfen sich die Spannungen.“

Das Politikmachen hat in Frankreich eine physische, eine körperliche Seite. Ein politischer Mensch ist nur, wer sich auch an Demonstrationen beteiligt. Und dies tun nun in Frankreich, zur Beunruhigung der Regierung, seit kurzem auch sehr viele junge Menschen. Der Soziologe und Romancier Didier Éribon ist optimistisch.

„Ich glaube und hoffe, dass wir jetzt eine Renaissance der Linken erleben, allen Misserfolgen zum Trotz. Trotz Macron und seiner sehr rechten Regierung. Und trotz der Erfolge rechter Regierungen überall auf der Welt. Das ist eine historische Chance.“

In der Frage der Rentenreform kommt allerdings auch Frankreich nicht darum herum, die Arbeitswelt und die Finanzierung des Alters ökonomisch völlig neu zu denken. Diesbezügliche Stimmen sind derzeit noch viel zu wenig zu hören.