Festival an der Schaubühne
Auf der Kehrseite des Glücks
von Eberhard Spreng
Das Festival Internationale Neue Dramatik hat begonnen. Es zeigt Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern, mit denen die Berliner Schaubühne seit vielen Jahren ein künstlerisches Netzwerk aufgebaut hat. Zu ihnen gehören Milo Rau und Caroline Guiela Nguyen.
Deutschlandfunk, Kultur Heute – 06.04.2025 → Beitrag hören

Grace haust in einem Meer von Müll. In einer verlassenen Sporthalle fristet sie am Rande der irischen Gesellschaft ein Elendsdasein. Verfolgt von Erinnerungen, von geplatzten Träumen und enttäuschten Hoffnungen. F.I.N.D. beginnt in diesem Jahr mit einer Produktion mit dem ironischen Titel „Safe House“ und mit dem Blick auf die prekäre Kehrseite der westlichen Wohlstandsgesellschaften, deren einstige Führungsmacht USA ihre Politik nunmehr einem immer groteskeren Heilsversprechen unterordnet. Das beobachtet der künstlerische Leiter der Schaubühne, Thomas Ostermeier.
„Wir haben das Programm ja vor Trumps Wiederwahl gemacht: Die Auseinandersetzung, Themen und Fragen, auf wessen Rücken wird eigentlich der American Dream geträumt? Das ist eine Frage, die dann auch darüber hinausstrahlt, nämlich mit postkolonialen Phänomenen, diese Kehrseite der Glücksverheißungen. Das prägt ganz schön das Programm.“
Was geschieht im unsichtbaren Teil unserer globalen Lebenswirklichkeit? Auf wessen Rücken organisiert der Westen seinen Wohlstand? Wo wird er produziert? In „Lacrima“, das im vergangenen Frühsommer in Wien uraufgeführt wurde, wird die Geschichte der Herstellung eines unendlich schönen und teuren Kleidungsstückes erzählt, der Hochzeitsrobe einer englischen Prinzessin. Die Unterschiede bei dem Blick auf dieses Objekt interessieren die vietnamesisch französische Autorin, Regisseurin und Theaterleiterin Caroline Guiela Nguyen.
„Im Stück „Lacrima“ sagt eine Figur: Wenn ihr dieses Werk erblickt, dann seht ihr etwas wunderschönes; wenn wir es betrachten, dann sehen wir Blut und Tränen. Und wir sehen, was es an Zeit gekostet hat. Lacrima ist aber auch ein Vorwand, um über soziale Gewalt in der Arbeitswelt zu sprechen, und Gewalttätigkeiten im Privaten.“

Gewalterfahrungen beschäftigen auch den Schweizer Regisseur Milo Rau, der auf diesem Feld seinen so genannten „Globalen Realismus“ errichtet. Er fragt sich nicht nur, was dem westlichen Publikum vom Elend der Welt erzählt werden kann, sondern auch, wie weit die abendländische Bühne überhaupt gehen kann bei der Darstellung realer Gewalt.
„Das war immer etwas, was ich nicht verstanden habe und auch heute nicht verstehe und wo ich deshalb dran bleibe: Man fragt sich wirklich, warum das Theater sich immer damit beschäftigt, während es andere Dinge gibt, die sich nach ein oder zwei Projekten für mich erledigt haben. Während es dunkle Glutkerne gibt, solange ich dran bleibe, ich komme gewissermaßen nur immer weiter hinein aber nie darüber hinweg. Ein Grund ist sicher, weil es eine humane Grenzerfahrung ist, wo die Darstellung selbst an ihr Ende kommt. Es gibt ja keinen Mord auf der Bühne innerhalb des antiken Theaters, weil man das einfach als nicht darstellbar hielt.“

Am Ende seiner Produktion „Medea’s Kinderen“ fließt viel Blut. Dieser Hyperrealismus führt in Berlin zu Ohnmachten, ein Jahr nach der Genter Uraufführung. Dieser Versuch, den narrativen Zündstoff einer antiken Tragödie in einer zeitgenössischen Familienmordtat neu zu entdecken, war am Eröffnungswochenende vom F.I.N.D. die wohl gewalttätigste Grenzerfahrung.
Davon durfte man sich in kleineren Arbeiten erholen. Eine von ihnen feiert die Überwindung gesellschaftlicher Zwänge. In der Performance „Héritage“ steht der belgische Schauspieler Cédric Eeckhout zusammen mit seiner Mutter auf der Bühne. Das Stück erzählt von einschneidenden Entwicklungsschritten in deren Biografie in den 1970-er und 80-er Jahren.

„Es gab damals diese Frauen, die sich für ihre Kinder einsetzten, über ihre Mutterrolle aber nie ihre Freiheit als Frau aus dem Blick verloren. Wenn aber eine solche Frau 1982 beschloss, sich scheiden zu lassen, wurde sie als ein schlechter Mensch angesehen, obwohl sie doch nur die Verantwortung für ihr Leben übernahm. Also: Ohne je Simone de Beauvoir oder Annie Ernaux gelesen zu haben, machte meine Mutter mit ihrer privaten Entscheidung Politik, war Feministin. Das wollte ich sichtbar machen.“
Sichtbar machen, Grenzen der Wahrnehmung verschieben, das macht sich F.I.N.D. mit dem Blick auf ästhetische und narrative Ansätze des internationalen Theaters zur Aufgabe. Am Eröffnungswochenende wurde dieses Versprechen eingelöst.