Die-Tunis-Biennale-trotzt-der-Zensur-und-staatlicher-Gängelung

Biennale in Tunis
Was vom Leben draußen bleibt
von Eberhard Spreng

„Dream City“: Die Tunis-Biennale behauptet sich als Treuhänderin der Jasminrevolution.

Tagesspiegel, Kultur – 12.10.2022

Gegenkultur. Die Biennale mit ihren Performances und Videoinstallationen findet ebenso im Théâtre Municipal de Tunis wie in den engen Gassen der Altstadt statt. (Foto: Pol Guillard)

Eine Frau streift durch die nächtliche Strassen und Clubs der Stadt. Wenn sie etwas sagen will, dann tippt sie Worte in ihr Handy. Aber das ist selten der Fall. Nada ist taubstumm und führt ein Doppelleben: Unauffällig ist sie am Tag, eine unberechenbare Gefahr für Männer in der Nacht. Sie foltert und tötet, in trüb-traurigen Szenen der Verführung. In dem Schwarzweiß-Film von Ismaël und Youssef Chebbi wird Tunis zur bedrückenden Kulisse für Szenen einer stillen, wortlosen Wut. Was treibt diese Nada, dieses „Nichts“ um? Eine Abrechnung für Jahrhunderte der Unterdrückung durch die Männer, das Patriarchat, die Diktatur? Vielleicht.

„Elle n’entend que le vent“ gehört zum Filmprogramm der Biennale „Dream City“, die mit Theater, Tanz, Video, Musik und Debatten ein breites Forum für engagierte Kunst bietet. Das Festival will in langfristigen Projekten Stadtbevölkerung und Künstler zusammenbringen, Wissenschaftler und Akteure des sozialen Wandels in Koalitionen verbinden.

Der etwas blauäugige Titel darf wörtlich genommen werden: Es geht darum, in die realen Verhältnisse den Traum einer anderen Stadtwirklichkeit zu projizieren. Begonnen hat das sozio-artistische Experiment in den letzten Jahren der repressiven Ben-Ali-Diktatur. Gegen den Alleinherrscher begehrten Künstler:innen um die Geschwister Selma und Sofiane Ouissi in Kunstaktionen auf. „Für das erste Werk mit dem Titel ‚Dream City’ und bevor das Ganze ein Festival wurde, träumten wir von einer neuen Verbindung von Kunst und Publikum. Sieben Tausend Menschen gingen damals in der Medina für die Kunstfreiheit auf die Strasse“. Später, in der Revolution 2010/11 flohen die Demonstriereden vor Ben Alis Polizisten von der großen Avenue Bourguiba in die engen Gassen der Medina und fanden dort Unterschlupf. Bis heute ist die Altstadt mit „Dream City“ Symbol für einen Raum, der staatlicher Gängelung entkommt.

So bleibt für Selma Ouissi und die Equipe von „Dream City“, die der belgische Kurator Jan Goossens seit Jahren verstärkt, der Grundgedanke der Biennale aus der Zeit vor der Revolution von 2010/11 auch in der Zeit der Restauration unter Kais Saied lebendig: Die Verkopplung von langfristigen urbanen, ökologischen, sozialen und künstlerischen Prozessen. Eines davon soll den Séjoumi-Salzsee im Süden der tunesischen Hauptstadt vor dem ökologischen Untergang retten. Juristinnen beraten dafür die Bevölkerung in einem mehrjährigen Projekt im Dienste eines derzeit international neu aufkommenden Rechtsverständnisses, das die Natur zum schutzberechtigten Rechtssubjekt machen will.

In der Kaserne el Attarine mitten in der Medina laufen die meisten der Videoinstallationen. (Foto: Art-Rue)

Das 2007 erstmalig veranstaltete Festival hat sich also längst auch auf den erweiteten Stadtraum ausgedehnt. Aber sein Zentrum bleibt die Altstadt mit ihrem Gewirr enger, unübersichtlicher Gassen. Hinter der touristische Fassade des orientalischen Souk verbergen sich Palais’, faszinierende Architekturzeugnisse der Stadtgeschichte.

In der Dribbet Dar Hussein ist in eine säulenbewehrte Eingangshalle ein kleiner Theaterraum eingebaut. In der Mitte steht ein großer Glaskasten, in den das Publikum von zwei Seiten einblicken kann- darin die bekante, ältere Schauspielerin Jalila Baccar. Sie ist eingesperrt, alle Türe haben sich hinter ihr geschlossen. Warntöne gellen, wenn sie eine falsche Bewegung macht. Diese Theatervitrine ist ein Disziplinierungsraum, eine Zensurmaschine, kontrolliert von einer jungen Frau an den Technikpulten. „Atme ein und aus“ befielt sie der betagten Darstellerin, bevor sie von Theater- und Lebenserinnerungen berichtet, aus einer Zeit vor der Revolution von 2011, als der autokratische Präsident Ben Ali Tunesien regierte.

Die kleine Performance „Metamorphoses #2“ thematisiert einen Generationenkonflikt: Die Mutter muss den Platz räumen für die Tochter. Sarkastische Werbeeinspielungen lassen ahnen, dass die alte Welt autoritärer Unterdrückungen einer neuen Herrschaft weichen wird: dem hedonistischen Diktat des grenzenlosen Genusses. Aber auch etwas anderes geht verloren: Früher sei sie gerne im Mittelmeer schwimmen gegangen, sagt die ältere Dame; nun nicht mehr, aus Angst, Körperteilen junger Männer ihres eigenen Landes zu begegnen, die auf der Flucht Richtung Europa verunglückten.

Die Biennale in Tunis blickt aus der Sicht des globalen Südens auf die mediterrane Wirklichkeit. Die Konferenz „Between land and sea“, die von deutscher Seite unter anderem von der Bundeskulturstiftung gefördert wird, thematisierte in verschiedenen Panels immer wieder den Fluchtraum Mittelmeer, der nach Jahrtausenden kultureller Verbindungen, zur geopolitischen Trennlinie zwischen Afrika und Europa geworden ist. Neben der aktivistischen Kunst aus Tunesien und dem arabischen Raum sind im Programm auch international etablierte Positionen präsent: der kongolesischen Bühnenkünstler Faustin Linyekula oder ghanaische Filmkünstler John Akomfrah.

Und wieder ein Spaziergang durch die tunesische Metropole, wieder ein Bild der Gefangenschaft: In einer verlassenen kleinen Kirche entfaltet eine Installation die bedrückende Atmosphäre der Gefängniszelle: Man wird eingeschlossen in einen dunklen Raum, mit einem Gestell voller Monitore, darauf Großaufnahmen von Männerhäuten voller Tattoos und Narben. Ein Gefühl von körperlichem Schmerz stellt sich ein. Dazu kommt aus dem Kopfhörer ein das Immersionserlebnis forciernder Soundtrack mit Berichten des Alltags im Knast.

Die Installation „عن“in einer ehemaligen Kirche. Die Arbeit von Malek Gnaoui und Ala Eddine Slim basiert auf Recherchen in tunesischen Gefängnissen. (Foto: Art-Rue)

Später wird man aus der Zelle entlassen und in die Apsis geführt, bleibt vor einem Gitter stehen und blickt auf ein Breitwandvideo mit einer unscharfen, schemenhaften Farbkomposition. Ist das alles, was vom Leben da draußen geblieben ist? Auch vom Versprechen der Epiphanie, die an dieser Stelle einer Kirche zu erwarten ist, bleibt in der Installation von Malek Gnaoui und Ala Eddine Slim wenig. Diese nach Recherchen in tunesischen Gefängnissen entstandene Installation ist in Tunis als Uraufführung zu sehen, wie insgesamt ein Drittel des Programms.

Die Biennale „Dream City” trotzt der autoritären Tendenz, die Präsident Kais Saied in die tunesische Nachrevolutionsgeschichte gebracht hat: Suspendierung des Parlaments, Entlassung von Richtern, Meldungen von Gängelungen und Zensur der Künste durch den per Dekret regierenden Präsidenten, der im Sommer ein umstrittenes Verfassungsreferendum durchführen ließ. Der restriktiven Politik zum Trotz bleibt Selma Ouissi, die Co-Gründerin und Co-Direktorin des Festivals, standhaft. „Wir werden nicht zensiert und wir zensieren nicht die Künstler. Wir schaffen einen Raum, in dem die Dinge sehr direkt gesagt werden können. Aber wir sprechen vorab mit den Autoritäten“.

Wer bei „Dream City“ durch die Straßen der tunesischen Hauptstadt streift, staunt mit welcher Selbstverständlichkeit die Jasmin-Revolution in den Körpern der Menschen weiterlebt – allen Versuchen der islamistischen Ennahda-Partei zum Trotz, die arabische Vorzeigerepublik dem religiösen Gesetz zu unterwerfen und den Versuchen der weltlichen Macht, die Errungenschaften der Revolution und das republikanische Rechtssystem auszuhebeln.

Das Selbstbewusstsein insbesondere der Frauen im öffentlichen Raum und die Freiheit der Künstler scheinen völlig ungebrochen. Auch Teheran und Kopftuchdebatten scheinen hier weiter entfernt als das ist in Paris oder Berlin der Fall ist. Man erlebt eine Stadt, die unter Wirtschaftskrise und Inflation ächzt, nicht aber unter einem Mangel an individueller und künstlerischer Freiheit. Das vermittelt „Dream City“ in seinen besten Momenten: Der arabische Frühling ist noch nicht vorbei.