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Theater und Corona
“Wir müssen leichter werden!“
von Eberhard Spreng

„Die Bühnen können nicht sagen: Wir machen nach Corona einfach so weiter wie bisher, und das Publikum kommt zurück. Die Theater müssen ihren Standort in der Gesellschaft teilweise neu definieren.“ sagte der Bühnenvereinspräsident Carsten Brosda. Theaterleitungen zwischen Hamburg und Zürich denken aktiv über diese Aufgabe nach.

Deutschlandfunk – Kultur Heute, 16.01.2022 → Beitrag hören
Von einem normalen Spielbetrieb kann derzeit auch in den Bundesländern nicht die Rege sein, die nicht, wie zum Beispiel in Sachsen, von einem neuerlichen Lockdown betroffen waren. Amelie Deuflhard leitet in Hamburg das Kampnagel und sucht nach einer Balance zwischen Infektionsschutz und Kulturangebot:

„Es gibt viele Menschen, die noch vorsichtig sind und das ist auch absolut verständlich. Auf Kampnagel arbeiten wir zum Beispiel weiterhin mit Schachbrettmuster, um Vertrauen zu gewinnen.“

Von Bundesland zu Bundesland, von Theater zu Theater sind die Regelungen unterschiedlich. In Berlin darf in vollen Sälen gespielt werden, zur Freude nicht nur des Intendanten am Berliner Ensembles, Oliver Reese.

„Wir sind bei gut 80%, und das finde ich das ganz klare Signal, dass die Zuschauerinnen, die Zuschauer gerade in solchen Krisenzeiten Kultur brauchen.“

Ähnliches beobachtet der Zürcher Co-Intendant Nikolas Stemann in der ebenfalls von Covid-19 stark betroffenen Schweiz.

„Es gab zweimal die Situation, dass wir nach einem Lockdown wiederangefangen haben zu spielen, beide Male haben wie uns große Sorgen gemacht, ob überhaupt noch Leute kommen und beide Male haben sich diese Sorgen als unbegründet erwiesen..“

Aus der deutschsprachigen Theaterlandschaft kommen die verschiedensten Meldungen über ausbleibendes Publikum, schwindende Kasseneinnahmen. Zusammen mit klammen kommunalen Haushalten könnten sie in eine veritable Theaterkrise münden. Das befürchtet Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda, der zugleich Präsident des Deutschen Bühnenvereins ist. Er nimmt die Krise zum Anlass für einen allgemeinen Reformaufruf der Bühnen.

„Wie organisieren sich Bühnen so, dass Vielfalt von Gesellschaft tatsächlich nicht nur auf den Bühnenprogrammen sondern auch in der Ansprache des Publikums sich niederschlägt, in einen viel breiteren Sinne man den Anspruch auch haben sollte als Bühne – wie stand das mal am Theater in Freiburg – „The Heart of the City“: Das Herz der Stadt zu sein.“

Elend und Glanz des digitalen Theaters

Lockdowns hatten diese Herzkammer, den Versammlungsraum Theater ins Digitale verlegt. Im sächsischen Leipzig, erst gestern aus erneutem Theaterlockdown erlöst, hat Intendant Enrico Lübbe damit aber auch Ermutigendes erlebt.

„Ich habe in Leipzig die Erfahrung gemacht, dass, sobald die Theater wieder offen waren, die Nachfrage nach Streamings rapide sank. Andererseits haben wir auch gelungene Beispiele erlebt für neue Digitalformate und für eine besondere Form der Inklusion: Wir haben hier im Lockdown „Widerstand“ als Theaterfilm inszeniert. Es thematisiert die Radikalisierung in abgehängten ostdeutschen Regionen. Und daraufhin bekamen wir Reaktionen aus diesen ländlichen Regionen, die uns schrieben, dass sie mittels dieses Formates unsere Arbeit nun verfolgen können, ein Thema, das sie ja direkt betrifft.“

Der Theatersaal als „Herz der Stadt“, sein digitale Abbild als Ausstrahlung in die ländliche Umgebung. Corona wirkt wie ein Beschleuniger von notwendigen Reformprozessen und Erweiterungen, an denen man in Zürich experimentierte.

„Ich hab auf Strassen gespielt, in Parks, auf Schiffen, in Kirchen. Wir haben Musikalben aufgenommen, Kolumnen geschrieben, Bücher veröffentlicht. Es gab eine Erweiterung des Theaterbegriffs in alle Richtungen.“

Aber auch das klassische Bühnengeschehen hat sich verändert, wie BE-Chef Oliver Reese berichtet:

„Wir sind flexibler geworden, wir sind schneller geworden. Früher haben wir auf Monate geplant, jetzt sind wir in der Lage, innerhalb von wenigen Wochen, manchmal von Tagen zu verändern. Ich finde, das Theater muss da leichter werden. Die Zeiten, wo man Theater gemacht hat nach dem Motto: Man geht ins Theater, man hat ein Abonnement, man macht eine wohl abgewogene Klassikeraufführung, die Zeiten sind sowieso schon länger vorbei.“

Für Amelie Deuflhard muss sich das Theater nach Corona neu positionieren, indem es sich personell völlig neu aufstellt.

„Für mich sieht das Theater der Zukunft wesentlich diverser aus als das Theater der Gegenwart. Wir brauchen neue Publika, Publika, die repräsentieren, dass wir eine Einwanderungsgesellschaft sind, wir brauchen diversere Mitarbeiter:innenschaft in unseren Häusern.“

Systemrelevant? Demokratierelevant!

Theater als Vorkämpfer für eine diverse Gesellschaft, das dürfte das Metropolentheater künftig ausmachen. In den Provinzen hat es derzeit andere Prioritäten.

„Ich habe zum Thema Systemrelevanz der Theater oft gesagt, dass wenn wir Theater schon nicht systemrelevant seien, dann doch aber zumindest demokratierelevant. Und das scheint mir hier in Sachsen in den letzten Wochen noch offensichtlicher geworden zu sein. Diese Orte aufgrund der wirtschaftlichen Coronafolgen jetzt zu beschneiden oder gar abzuschaffen wäre für ganze schon jetzt strukturschwache Regionen verheerend.“

Der traditionelle Abonnementsbetrieb fürs städtische Bürgertum, von diesem Modell verabschieden sich viele Theater. Sie nutzen die Krise für die Suche nach neuen Profilen und Aufgaben.