Die Fotoausstellungen der Rencontres d’Arles feiern die Vergänglichkeit

Rencontres d’Arles
Die Sterblichkeit der Bilder
von Eberhard Spreng

Schon seit 1970 veranstaltet das südfranzösische Arles die „Rencontres de la Photographie d’Arles“ in verschiedenen, oft Jahrhunderte alten Bauwerken der Stadt. Bei der 55. Fotoschau ist Japan Gastland. Eine der Fragen in diesem Jahr: Kann Photographie die Vergänglichkeit überwinden?

Deutschlandfunk, Kultur Heute, 29.07.2024 → Beitrag hören

Christina de Middels „Voyage au milieu“ in der Église des Frères Prêcheurs.

„Nothing“ – „Nichts“ steht mit verwitterter Farbe auf einem großen Schild mitten in der kalifornischen Wüste. Auf einem anderen stehen die Namen: „Trump“ und „Pence“. Das muss wie eine Warnung an Migranten wirken, die sich auf den lebensgefährlichen Weg aus Guatemala über Mexiko in die USA machen. Zu sehen ist das in der Ausstellung „Reise zum Mittelpunkt“ in der verlassenen gotischen Église des Frères Prêcheurs. Soundscapes begleiten die Ausstellung und ihr Eintauchen in die Bildwelt einer bedrohlichen Landschaft. Die allesamt sorgfältig kadrierten Fotos stammen von Christina de Middel, die auch das Plakatphoto zur 55. Ausgabe der „Rencontre d’Arles“ anfertigte.

„Der Anlass für das Projekt war die Aufmerksamkeit, die Migration damals in den Medien hatte. Aber ich wollte etwas zeigen, das da immer fehlte: Den Mut und die Kraftanstrengung der Migranten.“

Die in Spanien geborene Fotoreporterin Christina de Middel ist seit zwei Jahren Chefin der legendären Fotoagentur Magnum. Das passt gut zu einer Fotoschau, die in diesem Jahr vor allem Photographinnen in den Fokus rückt: An die 2015 verstorbene us-amerikanische Fotojournalistin Mary Ellen Mark wird mit einer großen Retrospektive erinnert. Die ebenfalls us-amerikanische Künstlerin Debi Cornwall dokumentiert die Rollenspiele, die in einem Trainingscamp der US Army auf den Kriegseinsatz vorbereiten sollen. Der heroische Amerikanismus und sein Hang zu Gewalt ist hier ein zentrales Thema.

Debi Cornwall: Fictions nécessaires, 2018. Centre de combat terrestre et aérien des Marine Corps. Twentynine Palms, Californie, série. Avec l’aimable autorisation de l’artiste

Da viele der über dreißig Fotoschauen in der provenzalische Rhonestadt mit ihren Kirchen, Klöstern, Eisenbahnschuppen und Lagerhallen auch von Soundinstallationen begleitet werden, wird der Rundgang durch die Bild gewordenen Weltzustände zu einem sehr unterhaltenden immersiven Stadterlebnis. Klug sind hier künstlerische Positionen auf ihre Ausstellungsorte bezogen. Deren jeweilige Nachbarschaften bilden erhellende thematische und ästhetische Cluster. Christoph Wiesner verantwortet die Rencontres d’Arles, die er unter das Motto „Sous la surface“ – „Unter der Oberfäche“ gestellt hat.

„Das Motto kam von einer der Photographinnen im diesjährigen Programm: Ishiuchi Miyako sagt: Ein Foto zu machen heißt, den Abstand zum Motiv zu ermessen und das Unsichtbare sichtbar zu machen, dass unter seiner Oberfläche ruht.“

Ishiuchi Miyako hat Kleidungsstücke von Verstorbenen fotografiert: Unter anderen solche der mexikanischen Malerin Frida Kahlo. Die Photographin gehört mit ihrer Ausstellung „Belongings“ zum Länderfokus Japan im diesjährigen Arles-Programm und öffnet den Blick auf ein Thema, das auch andere Fotokünstlerinnen- und Künstler aufgreifen: Was kann Photographie angesichts der Vergänglichkeit? Sind Bilder wirklich bleibende Erinnerungen?

Jean-Claude Gautrand: L’Assassinat de Baltard, 1971. Avec l’aimable autorisation de l’artiste.

Neben der Vergänglichkeit der Orte durch historische Veränderungen, die Jean Claude Gautrand in vergangenen Jahrzehnten mit seiner Kamera einfing, steht die plötzliche Umformung in der Folge einer Katastrophe. In einer weiteren japanischen Fotoschau ist Fukushima und die Folgen zu erleben, auch die dabei beschädigten Porträts schon verstorbener Familienangehöriger sind zu sehen. Bilder sind sterblich. Die französische Künstlerin Sophie Calle feiert dies geradezu enthusiastisch in ihrer Installation tief unter der zentralen Place de la République.

Sophie Calle : Finir en Beauté, 2024. Avec l’aimable autorisation de Anne Fourès.

In unterirdischen Gewölben aus der Römerzeit sehen wir die schimmeligen Porträts blinder Menschen, die Calle einst für ein Buch- und Ausstellungsprojekt anfertigte. Erläuterungen der Künstlerin sind Teil der Installation und erzählen von der Vorgeschichte: Ein Unwetter hatte Schimmelschäden in Teilen von Sophie Calles Bilderlager heraufbeschworen.

„Um eine Kontaminierung weiterer Werke durch Schimmelbefall zu verhindern, empfahlen die Restauratoren, die betroffenen Werke zu vernichten. Aber die Porträts dieser Blinden hatten für mein Leben eine zu große Bedeutung, als sie einfach auf den Müll zu werfen.“

„Finir en Beauté“ heißt die Installation: Einen schönen Tod sollen die Werke im Jahrtausende alten Feuchtbiotop unter der Rhonestadt haben. Das Bild des Menschen ist vergänglich wie sein Körper. Diese zugleich tröstliche und für Erinnerungstechnologien allarmierende Erfahrung ist der Höhepunkt der 55. Rencontes d’Arles, die mit ihrem breiten Spektrum dokumentarischer und künstlerischer Positionen überzeugt.