Biennale in Tunis
Treuhänderin der Jasminrevolution
Von Eberhard Spreng
Das Tunesien unter Präsident Kais Saied scheint dabei zu sein, all die Errungenschaften wieder rückgängig zu machen, die sich die tunesische Bevölkerung in der so genannten Jasminrevolution von 2011 erstritten hat. Aber beim Besuch der Hauptstadt und der Biennale „Dream City“ hat man das Gefühl, dass sich vor allem Künstler die Freiheit nicht mehr nehmen lassen.
Deutschlandfunk, Kultur Heute – 09.10.2022 → Beitrag hören
Ein Glaskasten, in den das Publikum von zwei Seiten schauen kann: Darin eine berühmte, ältere tunesische Schauspielerin. Sie ist wie eingesperrt, alle Türen haben sich hinter ihr geschlossen. Bedrohliche Warntöne gellen sie an, wenn sie eine falsche Bewegung macht. Der Glaskasten ist ein Disziplinierungsraum, eine Zensurmaschine, kontrolliert von einer jungen Frau an den Technikpulten.
„Atme ein und aus“ befielt die junge Stimme beruhigend der alten Dame, bevor diese von Theater- und Lebenserinnerungen berichtet, aus einer anderen Zeit, einer vor der Revolution von 2011, dem Tunesien unter Präsident Ben Ali. Die kleine Performance „Metamorphose #2“ thematisiert einen Generationenkonflikt: Die Alte muss den Platz räumen für die Junge, und ironische Werbeclips lassen ahnen: Die alte Welt autoritärer Unterdrückungen wird einer neuen Herrschaft weichen, dem hedonistischen Diktat eines grenzenlosen Genusses. Nach einer viertel Stunde Spaziergang durch die tunesische Metropole, noch ein Gefängnis: In einer verlassenen kleinen Kirche erlebt der Besucher in einer Installation die bedrückende Atmosphäre einer Gefängniszelle: Man wird eingeschlossen in einen dunklen Raum, mit einem Gestell voller Monitore, mit Großaufnahmen von Männerhäuten voller Tattoos und Narben. Ein Gefühl von körperlichem Schmerz stellt sich ein. Dazu ein das Immersionserlebnis forciernder Soundtrack mit Berichten vom Alltag im Knast.
“I lost control, jammed everywhere. The sound of metal banging in my ear, I shook my head thinking it was inside. It wasn’t.”
Arbeiten wie diese – nach Recherchen in tunesischen Gefängnissen entstanden -, sowie Theater, Film, Tanz, Video, Musik. Ein Drittel des Programms in Tunis sind Uraufführungen. Die Biennale „Dream City” trotzt der autoritären Tendenz, die Präsident Kais Saied in die tunesische Nachrevolutionsgeschichte gebracht hat. Die Künstlerin Selma Ouissi, Co-Gründerin und Co-Direktorin des Festivals, bleibt standhaft.
„Wir werden nicht zensiert und wir zensieren nicht die Künstler. Das kann man den unterschiedlichen künstlerischen Positionen ansehen. Wir schaffen einen Raum, in dem die Dinge sehr direkt gesagt werden können. Aber dem gehen immer auch Verhandlungen voraus. Also: keine Zensur, aber Gespräche mit den Autoritäten.“
Grundgedanke der Biennale ist die Verkoppelung von langfristigen urbanen, sozialen und künstlerischen Prozessen. Hinter all dem steht eine Haltung, die einst die Revolution von 2011 vorbereitete.
„Für das erste Werk mit dem Titel ‚Dream City’ und bevor das Ganze ein Festival wurde, träumten wir von einer neuen Verbindung von Kunst und Publikum. Das sollte in der Medina passieren. Sieben Tausend Menschen gehen für die Kunst auf die Strasse. Unter Ben Ali war so etwas eine Utopie, denn sein Regime erlaubte in der Öffentlichkeit keine Versammlung von mehr als drei Personen.“
Auch wenn sich das 2007 erstmals veranstaltete Festival längst auch auf die europäisch geprägten Teile der tunesischen Hauptstadt ausgedehnt hat, bleibt die Altstadt mit ihrem Gewirr enger, unübersichtlicher Gassen das Herz des sozialen und künstlerischen Experiments. Hinter der touristischen Fassade des orientalischen Souk verbergen sich Stadtpalais, ehemalige Gästehäuser, faszinierende architektonische Zeugnisse der Stadtgeschichte, die für zehn Tage Herbergen der Kunstschau werden.
‚Dream City‘ legt so hinter der orientalisierenden Attraktion des Souk Tiefenschichten der tunesischen, arabischen und afrikanischen Wirklichkeit offen und thematisiert Kernprobleme des globalen Südens. Seit einigen Jahren verstärkt der belgische Kurator Jan Goossens das tunesische Direktorium.
„Klar ist, dass in der jungen Generation von Künstlerinnen und Künstlern eine aktivistische Haltung sehr präsent ist: Zum Beispiel der Kampf rund um die Klimaveränderungen, wie wir das hier an dem Séjoumi-See im Süden von Tunis erleben: Künstler, Bürgerinitiativen und Bevölkerung finden sich dort in einer Koalition für den Erhalt dieses Biotops zusammen.“
Tunis hat sich immer schon als Drehscheibe für den Kulturdialog zwischen Nord und Süd verstanden. Die Stadt präsentiert sich in den Festivaltagen als eine von Wirtschaftskrise und Inflation gepeinigte Metropole. Nicht aber als eine, in der individuelle Freiheiten beschnitten werden, weder vom Islam noch von der weltlichen Herrschaft. Heute ist die Altstadt mit „Dream City“ Symbol und Treuhänderin für den Erhalt individueller und gesellschaftlicher Freiheiten.