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Frankreichs Streik und die Kultur
Geruch von Müll und Tränengas
von Eberhard Spreng

Tagesspiegel, Kultur – 25.03.2023 → Artikel lesen

Foto: Eberhard Spreng

Wer in den vergangenen Wochen in Frankreich unterwegs war, erlebte ein unsicheres Gleiten zwischen immer kleiner werdenden Inseln von Normalität. Eine Zugfahrt von der Provinz nach Paris mit einem der wenigen fahrenden Züge ist eine solche Insel, ein Theaterbesuch, ein Aufenthalt im Café ohne Tränengasgeruch. Alles das wird begleitet von Recherchen im Internet, Überwachung von Nachrichtenportalen. Man wird Follower von Twitterdiensten wie dem der SNCF, freut sich über den Regionalbus, der vom Streik unberührt zum Bahnhof fährt. In Paris angekommen fällt der gärende Müll auf, der ganze Trottoirs unpassierbar macht. Der Geruch ist heftig. Paris kennt Streiks, seine Bewohner sind trainiert im trotzigen Festhalten am Alltag unter erschwerten Bedingungen. Aber diesmal ist es anders.

Politik ohne Fingerspitzengefühl

Alles hat sich geändert, seit die Regierung unter Premierministerin Elisabeth Borne am Ende der letzten Woche den problematischen Verfassungsartikel 49.3 zum Einsatz brachte, um die umstrittene Rentenreform ohne Abstimmung im Parlament durchzudrücken und dem Montagabend, nachdem zwei Misstrauensanträge im Parlament scheiterten. Jetzt brennen die Müllberge, beißender Rauch liegt in der Luft. Dennoch spielen die Theater: An der Colline sieht man die Theaterversion, die der israelische Filmregisseur Amos Gitai aus einer Dokumentarfilmreihe destilliert hat. Im parisnahen Nanterre kann man die dystopische Märchenparabel des Jewgeni Schwarz über eine knechtische veranlagte Bevölkerung erleben, die sich aus ihrer Unfreiheit auch dann nicht befreit, wenn das emblematische Drachenwesen längst erlegt ist, das die totalitäre Herrschaft verkörpert. Das wirkt wie aus einer anderen Zeit. Regie führt Thomas Jolly, der im nächsten Jahr die olympische Spiele kulturell umfloren soll. Auf dem Weg zu einer Ausstellung im Musée du Luxembourg kommt man durch die Rue de l’Odéon. Sie ist abgesperrt, ein dicker Bauschuttcontainer steht auf der Straße und wird mit dem Müll befüllt von zwei Arbeitern mit maghrebinischem Migrationshintergrund, nicht von den seit knapp drei Wochen streikenden Müllmännern.

Ein befreundeter Gewerkschaftler sagte einmal, dass man in Deutschland streike, wenn Verhandlungen gescheitert sind und dass man in Frankreich streike, damit überhaupt Verhandlungen stattfinden. Dieser zweifellos etwas summarische Vergleich macht einen großen Unterschied zwischen den beiden Ländern deutlich: Den der gefühlten Augenhöhe zwischen Belegschaft und Betriebsleitung, zwischen Bevölkerung und politischer Führung. Macrons Fernsehinterview am letzten Mittwoch hat genau jene Empfindlichkeiten verletzt, die immer schon latent das Verhältnis der Bevölkerung zur politischen Führung belasten. Er ist immer als arrogant und abgehoben wahrgenommen worden und hat mehrfach Besserung gelobt. Nun sprach er trotzdem herablassend von einer illegitimen „Foule“ (Masse) auf der Straße, die sich vom „Peuple“ (Volk) unterscheide, das sich politisch durch seine Parlamentsvertreter zu äußern habe. So hat er nun noch mehr zornige Menschen auf die Straße getrieben und riskiert neben dem ohnehin heftigen Streit um die Rentenreform in eine veritable Staatskrise.

Macron versteht die Psychologie der Franzosen nicht, so schreibt ein Freund, dieses arbeitsame und friedliebende Volk, das mit dem Müßiggang höchstens mal kokettiert. Es hat viel Groll und Wut angesammelt: Fühlt sich als Opfer der Globalisierung, betroffen zudem von einer völlig überzogenen staatlichen Gängelung während der Lockdowns, als man für jeden Aufenthalt außer Haus Berechtigungen nachzuweisen hatte und um 18 Uhr zum Zapfenstreich zu Hause sein musste.

Nun streiken auch die Theater

Jetzt hat der Streik auch die Kultur erreicht. Am Vorabend des neunten nationalen Streiktags haben sich rund dreihundert Künstler:innen zu einem Kollektiv zusammengeschlossen um gegen das Rentengesetz und die Art seiner Verabschiedung im Parlament zu protestieren. Stars wie Juliette Binoche gehören dazu, auch Regisseur:innen und Theaterleiter großer französischer Schauspielhäuser. Neben vielen Schulen und Universitäten haben sich viele Theater dem Streik vom Donnerstag angeschlossen und ihre Aufführungen abgesagt. Auch wenn sie bald wieder öffnen sollten – Inseln der Normalität sind sie dann sicher nicht mehr.