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Pläne am NTGent
Theaterupgrade
von Eberhard Spreng

Als der Schweizer Regisseur Milo Rau in der Spielzeit 2018/19 die Leitung des NTGent übernahm, stellte er die Arbeit des Theaters unter die Maxime des „Genter Manifestes“. Im Lockdown macht man sich dort jetzt Gedanken über eine völlig neue Zukunft. Kommt das Genter Manifest 2.0?

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 21.11.2020 → Beitrag hören

„Das Stadttheater der Zukunft“ steht vollmundig auf einem Spruchband quer über dem Eingang zum Genter Theater. Sein Leiter, der Schweizer Regisseur Milo Rau und sein Team versuchen auch im Lockdown, mit einem Bündel neuer Ideen, diesem Anspruch gerecht zu werden.

„Beim ersten Lockdown hatten wir Plan A, Plan B, Plan C und sind eigentlich immer auf Sicht gefahren. Und als jetzt der zweite Lockdown kam, haben wir uns plötzlich gesagt: Warum verschieben wir die Spielzeit nicht einfach nach hinten, also wir spielen jetzt gar nicht mehr bis Ende Jahr, dazu sind wir auch gezwungen, spielen aber im August durch. Wir machen also jetzt Ferien. Wir entwickeln ein anderes Konzept mit Sommerfestival, wie wollen alle griechischen Tragödien in einem Monat spielen – es sind ja nur zweiunddreißig – und zwar Morgens und nicht Abends. Wir dachten: Warum geht man nicht zuerst ins Theater, etwa von sieben bis neun, dann trinkt man einen Kaffee und geht dann zur Arbeit.“

Theater morgens? Als Frühsport des Geistes vor den Mühen der Arbeit? Milo Rau erinnert sich diesbezüglich an eine Schlüsselerfahrung.

„Ich war einmal in Paris und da wurde in einem Park um sieben oder acht ein Stück von Shakespeare gespielt, und plötzlich habe ich jede Zeile dieses Stücks verstanden, weil ich nicht am Abend, abgenervt, fertig, voller Gedanken irgendwo war und eigentlich dem gar nicht mehr folgen konnte, sondern ich war ganz frisch. Und ich habe gemerkt: Das ist eigentlich Sinn und Zweck des Theater, so wie es gemacht wurde.“

Die Dionysien, die Urerfahrung des abendländischen Theaters in der griechischen Antike begannen einst am frühen Morgen, als Opferritual und später Theater unter dem Licht der Sonne. Wird es künftig also ein Genter Sommerfestival geben nach griechischem Vorbild, draußen und deshalb kaum infektionsrelevant? Sicher ist; das Theater will raus; der fest ans Haus gebundene Regisseur Luk Perceval plant eine Art Wanderbühne als vierte Spielstätte.

„Luk Perceval, der bei uns arbeitet, der hat einen Traum: Er will ein viertes Haus gründen, das heißt „Naked Theater of Ghent“, also auch NTGent, wo ein Team von sechs, sieben Schauspielern mit einem Zelt durch die Stadt zieht und dann auf Festival geht und dann immer ein oder zwei Monate irgendwo landet.“

Anders als Luk Perceval, dessen Inszenierungen sich immer streng an klassische theatrale Mittel halten, arbeitet Milo Rau seit langem mit Videoelementen, realisiert selbst auch Filme wie jüngst „Das neue Evangelium“ und träumt nun von einer regelrechten Film-Abteilung an seinem Theater in Belgien.

Völlig neues Betriebssystem für das Theater

„Hier am NTGent haben wir hundert festangestellte Künstler, Techniker und so weiter, und ich hab plötzlich gemerkt: Wir können auch Filme drehen. Es wird ja schon seit langem mit Video gearbeitet; das wurde im Theater aber immer ein bisschen halbgar gemacht. Ich dachte plötzlich: Wir haben ja all diese Filmschauspieler, dann drehen wir die Filme doch dann gleich selber.“

Anders als die strukturell enger an klassische Arbeitsabläufe gebundenen deutschen Stadttheater war das NTGent mit seiner Öffnung zur feien Szene immer schon flexibler aufgestellt. Jetzt mutet es sich zu, auch in allen analogen und digitalen Nachbardisziplinen zu agieren. Im Kern geht es darum…

„… dass man beginnt, diese ganzen, immer noch getrennten Produktionsmaschinen zusammenzudenken. Also Film, Fernsehen, Online, Theater, Life, Performance, dann auch Serien oder Dokumentarfilme über Projekte macht, Projekte komplett verfilmt, Making Ofs macht, die wiederum Stücke werden.“

Eine Universität der Künste

Träumt man im Genter Theater? Zwei Jahre nach dem Amtsbeginn des Schweizer Regisseurs, Autors und Essayisten sieht all das aus wie ein corona-bedingter Reset mit neuem Betriebssystem.

„Das ist wirklich Genter Manifest 2.0, dass eigentlich die Aufführung, Produktion und Distribution zu einer Sache werden. Dass man schon in dem Produktionsprozess das Publikum, das nachher dabei ist, in dem Laien dabei sind, indem die Proben offen sind, indem man an Orten spielt oder probt, wo man nachher aufführt, dieses „Draußen“ von Theater, dass man nachher die Distribution öffnet, indem es eine Filmfassung gibt, indem es tourt u.s.w.: Dass das immer alles zusammen gedacht wird. So als wäre das Theater ein großer Workshop, eine Art Universität der Künste. Also es klingt ein bisschen grotesk, aber ich bin eigentlich diesen Umwälzungen durch Corona sehr dankbar, dass diese Veränderung krisenhaft beschleunigt werden.“

Bleibt nur zu hoffen, dass die staatliche Corona-Politik, die in Europa bewiesen hat, dass ihr die krisenbedingte Kreativität innerhalb der Theater eher schnurz ist, Neuerfindungen wie denen am NTGent nicht im Wege steht.