Digitales Festival der Goethe-Institute
Geschichten vom Weltverlust
von Eberhard Spreng
22 europäische Städte sind an dem von Goethe-Instituten veranstalteten Freiraum-Festival beteiligt: „Wie steht es heute um die Freiheit in Europa?“ Darüber diskutierten über 40 Kulturschaffende, Intellektuelle, Künstlerinnen und Künstler.
Deutschlandfunk Kultur, Fazit – 01.11.2020 → Beitrag hören
Die sogenannte „Freiraum-Rhapsodie“ des albanischen Komponisten Fatos Qerimaj. Die klangschöne, aber leicht verdüsterte Komposition stand am Anfang des Festivals mit der Frage nach der Freiheit zu Coronazeiten. Der italienische Schriftsteller Franco Berardi sieht die Krise als Zeichen für die Agonie unseres Wirtschaftssystems.
„Die Pandemie ist etymologisch eine Apokalypse, im Sinne einer Offenbarung, einer Offenlegung der verschiedenen katastrophischen Ebenen des späten kapitalistischen Systems. Ich benutze gerne eine etwas makabre Metapher: Wie leben alle im toten Körper des Kapitalismus. Denn seine progressive Phase ist längst vorbei.“
Mehrere Debatten versuchten, die Corona-Krise in einem größeren historischen Zusammenhang zu verorten. Beginnt mit ihr eine neue Zeit? Oder ist sie nichts weiter als der dekadente Höhepunkt einer alten? Der bulgarische Politologe Ivan Krastev fragt nach dem Charakter historischer Narrative.
„Wir können uns gut an Kriege und Revolutionen erinnern, aber nicht an Pandemien. Es gibt weltweit vierhundert Bücher über die spanische Grippe, die zwei bis dreimal mehr Opfer forderte als der erste Weltkrieg. Aber über den gibt es achtzig Tausend Veröffentlichungen. Pandemien lassen sich einfach nicht schön erzählen. Es gibt da nichts heroisches.“
Ein Festival am heimischen Computer, mit Teilnehmern aus Europa und den USA, und einer Chatfunktion für die, die Fragen stellen wollen. Das ist die neue Normalität auch dieses „paneuropäischen Hybridfestivals“. Die Soziologin Eva Illouz fragt sich in Zeiten, in denen jeder andere Mensch eine Infektionsgefahr darstellt, ob nicht eine der zentralen Errungenschaften der Moderne an ihr Ende kommt.
„Der Fremde ist eine wichtige Größe in der Moderne: Die Möglichkeit, mit vielen unbekannten Menschen in Kontakt zu kommen und ihnen zu trauen. Den Fremden nicht als Feind zu sehen, oder wie Georg Simmel es nannte: als „indifferent“. All das hat sich dramatisch verändert, denn jetzt ist der Fremde potenziell ein Feind.“
Das Lockdown-Paradox: Kosmopolitismus und Weltverlust
Das Zuhause als Zentrum einer neuen gesellschaftlichen und kulturellen Erfahrung war ein weiteres Diskussionsfeld im Freiraum Festival. Ivan Krastev traut dieser neuen Form der Gefangenschaft im Privaten Lernerfahrungen zu.
„Man bleibt zu Hause vor dem Fernseher und fängt plötzlich an, sich für völlig neue Dinge zu interessieren: wie viele Infizierte gibt es in Brasilien? Wie viel Tote in den USA? Wir werden zuhause eingesperrt und plötzlich leben wir in einer größer gewordenen Welt, einer gemeinsamen Welt. Ein Paradox: Wir werden kosmopolitischer, weil wir zuhause eingesperrt sind.“
Zwischen der neuen, medial- und digitalvernetzten Welt des Lockdowns und den alten analogen Erfahrungen der Präsenz im öffentlichen Raum entstehen derzeit Unvereinbarkeiten, eine Art Dialektik einer neuen Vorstellung der Welt, die Eva Illouz skeptisch beobachtet.
„Für die Wortführer des neuen Zivilisationsmodells ist das Heim der Ort, von dem aus wir online-shoppen, konsumieren, unsere Freizeit organisieren, Ärzte konsultieren und so weiter. Aber die Erfahrung des Lockdowns heißt nicht nur Verlust der Freiheit, sondern Verlust von Welt überhaupt. Grob gesagt ist es das, was Hannah Arendt Weltentfremdung nannte.“
„Kann das Zuhause ein Himmelreich sein in einer Welt in der Krise“, unter diesem Titel machte Eva Illouz in ihrer Key-Note auch deutlich, dass die neue Privatheit ohne das Wirken öffentlicher, das heißt staatlicher und privater Versorger nicht zu denken ist. Und deren Arbeiter gehören, wie Alfredo Saad Filho, Ökonom am Londoner King’s College erklärt, zu den von Covid-19 besonders Gefährdeten.
„Corona trifft die sozialen Gruppen sehr unterschiedlich, abhängig von ihrer Fähigkeit, sich zu schützen. Die Armen, die im Durchschnitt ohnehin schon eine schlechtere Gesundheit haben, verlieren entweder ihr Einkommen, oder sie müssen ihr Leben aufs Spiel setzen in Jobs, die jetzt alle beklatschen, aber keiner gut bezahlt. Das Ergebnis wird sein, dass Arme in den Todesstatistiken dramatisch überrepräsentiert sein werden.“
Der letzte Tag gehörte den Künstlern und ihren Erfahrungen in einem von digitalen Algorithmen vorstrukturiertem Kunstraum, einem der Zoom-Konferenzen, Desktop-Performances, Gaming-Formate. Einig waren sie sich in der Erwartung einer wahrscheinlich dauerhaften, gewaltigen Umwälzung der künstlerischen Mittel und der Kunstproduktion über die Coronazeit hinaus.