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Festival d’Avignon digital
Die Republik der Bits und Bytes
von Eberhard Spreng

Als das Festival d’Avignon im April abgesagt werden musste, löste dies in der französischen Kulturlandschaft einen Schock aus. Denn diese Kulturschau ist das Herzstück für den französischen Kulturbetrieb, sein spirituelles Zentrum, sein Mekka. Digital soll Ersatz geschaffen werden. Der heißt verheißungsvoll „Un Rêve d’Avignon“.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 10.07.2020 → Beitrag hören

Das Herz des Festivals: leer (Foto: Eberhard Spreng)

Wer sich in diesen Tagen die Fernsehdoku „Dans les Coulisses du Festival“ anschaut, muss schon hart im Nehmen sein. Die Produktion des staatlichen Senders Antenne 2 präsentiert Szenenausschnitte aus dem Programm des 71. Festival d’Avignon aus dem Jahr 2017, zeigt lachende Menschen, ein buntes Sommerpublikum auf Freiluftarenen, gut gelaunte Festivalmacher, das Making-Of eines Festivals aus der Zeit vor Covid-19. Und schwer zu ertragen ist die hier zu erlebende Unbeschwertheit und Ausgelassenheit gerade deshalb, weil man ahnt, dass sie Voraussetzungen sind, damit das Kulturerleben zur avignon-typischen Quelle von Inspirationen und Denkimpulsen wird. Oder besser wurde: Was in diesem, dem Corona-Jahr fehlt, es wird schmerzlich deutlich beim Anblick auf das Glück der Vergangenheit und man fragt sich besorgt, ob das nicht auf ganz lange Zeit verloren ist, vielleicht für immer. In einer Szene hat sich eine riesige Schar von Kindern für eine pädagogische Veranstaltung auf den Papstpalasträngen versammelt. Und Festivaldirektor Olivier Py spricht ein Grußwort.

„Ihr seid die Zukunft des Festivals. Ihr seid die Hoffnung des Festivals. Hier zu sitzen bedeutet nicht einfach nur sich eine Aufführung anzuschauen. Da geschieht noch etwas wichtigeres: Ihr gehört dann zur Republik, ihr seid dann die Republik. Wenn ich als Festivaldirektor es nicht schaffe, dass dieser Hof für die Republik seht, dann bin ich gescheitert.“

Das ist Kultur à la française. Sie fühlt sich als das spirituelle Zentrum des republikanischen Denkens und der Demokratie. Das unterstrich Olivier Py auch noch einmal mit einem Artikel, den er vor wenigen Tagen unter dem Titel: „Kultur ist kein Luxus, sondern eine absolute Pflicht“ in der Tageszeitung Le Monde schrieb. Da rief der Festivalchef die Politik zu mehr Engagement auf. Und das ging vor allem an die Adresse von Emmanuel Macron. „Bis zum heutigen Tag“, schreibt Py, „hat der Präsident kein kulturelles Projekt für Frankreich formuliert. Das bleibt ein Rätsel, denn keiner seiner Vorgänger hat das je versäumt“. Pys Artikel erschien einen Tag nach der Ernennung des neuen Premiers Jean Castex und noch vor der Präsentation seines Kabinetts, in dem nun Roselyne Bachelot den glücklosen Franck Riester im Kulturressort ablöst. Das ist ein Posten mit hohem Personalverschleiß: 12 Frauen und Männer bekleideten das Amt in den letzten 25 Jahren.

Beim Blick auf diesen digitalen „Rêve d’Avignon“ ist also immer auch die latente, ja historische Kulturkrise mitzudenken, seit das einst wichtigste Ministerium der Nachkriegszeit in den Hintergrund der Politik rückte. Avignon als Vordenker einer Kultur in Zeiten von Covid-19 zu positionieren, hätte allerdings ein anderes Programm vorausgesetzt als der Griff ins reichhaltige Audiovisuelle Archiv. Da ist die Fernsehversion der „Verdammten“ noch mal zu sehen, die Ivo van Hove mit den Schauspielern der Comédie Française auf die Papstpalastbühne stemmte. Die Bearbeitung des Visconti-Films war ein großer Avignonerfolg des Jahres 2016. Oder das 16-stündige „Heinrich VI“ – Epos, das zwei Jahre zuvor das Publikum verzauberte. Dem Programm ist allerdings auch anzumerken, dass hier auf das zurückgegriffen wird, was die großen Fernsehanstalten dereinst für ihre Theaterprogramme aufwändig aufzeichneten und das sind eher publikumssichere Aufführungen und seltener künstlerisch Gewagtes. „Heinrich VI“-Regisseur, der junge, neo-klassische Thomas Jolly, beglückt die digitale Festivalseite allerdings auch, indem er im Stil von launigen Youtube-Erklärvideos die ganz Festivalfremden lustig-ironisch mit Avignon vertraut macht.

„Alors voilà, vous commencez à tout savoir ou presque sur le festival d’Avignon, mais vous pouvez simplement retenir que c’est une fête dans le Vaucluse autour du 14 juillet avec des artiste en maillot jaune qui dansent toute la nuit sur un pont et un mistral qui souffle à 320 km/heure peut vous emporter“

Wirkliche Premieren hat nur der Programmzufluss zu bieten, den das staatliche Kulturradio „France Culture“ beisteuert. Die für das Festival in diesem Jahr vorgesehenen Lesungen in Avignon hat es in sein riesiges Pariser Studio 104 verlegt. Edna O’Briens aufwühlender Roman „Girl“ über ein nigerianisches, von Boko Haram entführtes Mädchen war ursprünglich für den gewaltigen Papstpalast vorgesehen und stand am Anfang des digitalen Festivalangebots.

„Les pierres elle-mêmes étaient maculées en tombant. Mais ils les ramassaient quant même pour continuer le massacre.“

Wie zahllose Theater im Lockdown vor ihm, schmückt sich das Festival d’Avignon im Wesentlichen mit ruhmreichen Taten der Vergangenheit und zeigt vor allem Aufzeichnungen. Es versteht sich, wie immer, als das Herzstück der Republik, aber es beschäftigt sich nicht mit der immensen Herausforderung, vor die Sars-CoV-2 die Menschengesellschaft im Zeitalter des Klimawandels und des Artensterbens stellt. Solche Debatten hätten ein digitales Festival d’Avignon zum Thinktank des Jahres 2020 machen können.