Die sechste Kyjiw-Biennale mit ihrer zentralen Near-East-Far-West-Ausstellung in Warschau

Die 6. Kyjiw Biennale
Paradoxe Identität
von Eberhard Spreng

Die in der Folge des Euromaidan 2015 gegründete Kyjiw-Biennale wird in diesem Jahr zum sechsten Mal veranstaltet. Konzipiert wird sie vom Kyjiwer Visual Culture Research Center, muss aber kriegsbedingt auf andere Spielort ausweichen. So findet die zentrale Ausstellung „Near East, Far West“ im Warschauer Museum für moderne Kunst statt.

Deutschlandfunk, Kultur Heute, – 17.12.2025 → Beitrag hören

Die Installation „Until we became fire and fire us“ von Basel Abbas and Ruanne Abou-Rahme begrüßt das Publikum im ersten Saal.

„Near East, Far West“. Naher Osten, Wilder Westen? Der etwas rätselhafte Titel der Warschauer Ausstellung spielt mit vielen Assoziationen. Die Schau lädt zum Perspektivwechsel beim Blick auf die europäische Landkarte ein. Sie will zeigen, dass dieser Osten seit Jahrtausenden Spielball großer Mächte ist. Der ukrainische Kurator Wassyl Tscherepanyn erläutert diesen Gedanken.

„Die gesamte Region liegt an Schnittpunkten der ehemaligen Grenzen verschiedener untergegangener Imperien. Sie wird als randständig gesehen, ist aber entscheidend für die Geschichte des europäischen Kontinents und der eurasischen Landmasse.“

In der Ausstellung umkreist eine Vielzahl künstlerischer Ansätze insbesondere aus der Ukraine ein gemeinsames Motiv: Wie sah und sieht die Welt aus dem Blickwinkel von Menschen aus, die nicht in Moskau, Berlin, Istanbul oder Wien leben, sondern in Lódz, Lemberg, Kyjiw oder Baku. Es geht darum, die Räume zu erkunden, die auf dem eurasischen Kontinent zwischen den Zentren der Macht liegen. Für diese Abseitsposition schlägt die Warschauer Kuratorin Magda Lipska eine überraschende neue Begrifflichkeit vor.

„Thema ist eine Weltregion, die wir „Middle East Europe“ getauft haben: Sie umfasst Osteuropa, das postsowjetische Zentralasien und den Nahen Osten. Und das ist auch eine ethische Haltung.“

Die Wortschöpfung „Middle East Europe“ bringt den Nahen Osten und Europa in einen engen Zusammenhang. Aber hier geht es nicht um traditionelle kulturelle Verknüpfungen, sondern um die gemeinsame Erfahrung von Kolonisierung, Vertreibung, Genozid.

Im ersten großen Saal der Ausstellung tut dies eine Installation mit einem aktuellen Blick auf den arabischen Raum; wenig später springt die Ausstellung zu historischen Erfahrungsräumen in ehemaligen Sowjetrepubliken.

Werke der ukrainischen Avantgarde aus der Platinum Collection, Kyjiw. (Foto: Alicja Szulc)

Aus dem Kyjiwer Mystezkyj Arsenal kommen Werke der ukrainischern Avantgarde der 1920er Jahre, die Stalins Säuberungen blutig beendete. Magda Lipska:

„Die so genannte Platinum Sammlung des Mystetskyi Arsenals ist Teil unserer Biennale, weil das Kunsthaus in der ukrainischen Hauptstadt angesichts des Winters sehr besorgt ist. Die Stromausfälle gefährden diese wohl wertvollste Sammlung der ukrainischen Moderne.“

Auch die 6. Ausgabe dieser Biennale ist kriegsbedingt auf internationale Kooperation angewiesen, die Kurator Wassyl Tscherepanyn erklärt.

„Mit dem Beginn der russischen Invasion 2022 haben wir ein nomadisches Modell und spielen die Biennale an mehreren Orten in der Ukraine und vor allem der EU.

Am Ende des Ausstellungsrundgangs stehen ganz aktuelle, kriegsbezogene Werke: zum Beispiel eine Wachspuppe in Felduniform mit ukrainischen Hoheitszeichen, die ein berühmtes polnisches Vorbild aufgreift.

„Eikôn“ von Arthur Zmijewski zitiert die berühmte Skulptur „The little Insurrectionist“ von Jerzy Jarnuszkiewicz.

„Wir haben hier in Warschau das berühmte Denkmal des Kleinen Aufständischen. Auf diesen Kindersoldaten im Warschauer Aufstand von Jerzy Jarnuszkiewicz wird heute zur Ehrung der jungen ukrainischen Soldaten angespielt.“

Der beeindruckende Animationsfilm „Grey Earth“ von Dana Kavelina zeigt mit bitterem Humor einen einsamen ukrainischen Soldaten, der in der Todeszone umherirrt.

Aus dem Animationsfilm „Gray Earth“ von Dana Kavelina.

Die Kyjiw Biennale hat ein Team aus Kuratorinnen und Kuratoren konzipiert und das zeigt sich auch in einer mitunter sprunghaften Verknüpfung historischer, geographischer und ästhetischer Ansätze. Aber sie ist die Einladung zu einer überraschenden Positionierung. Vasyl Tscherepanyn.

„Keiner will aus dem Osten kommen. Jeder will sich als Teil des Zentrums verstehen. Aber das ist hier paradox. Denn Europas Mitte ist in seinem Osten.

Die Kyjiw Biennale trotzt dem russischen Krieg und dessen imperialen Ansprüchen mit einer Selbstdefinition der kulturellen Identität in Europas Osten.