Photoausstellung in Arles
Körperlandschaften
von Eberhard Spreng
Bei den 56. „Rencontres d’Arles“, eine der weltweit größten Photo-Schauen, stehen bis zum 5. Oktober der Körper, seine Selbst- und Kostüminszenierungen im Mittelpunkt.
Deutschlandfunk, Kultur Heute – 15.07.2025 → Beitrag hören

Der aufgerichtete Körper einer jungen Frau im freien Fall: die Füße voraus, Haare und Kleid im Wind, ihr Blick richtet sich nach unten auf den kommenden Aufprall. Ein Sprung aus dem Fenster? Ein Fluchtversuch? Auf jeden Fall ist dieses Bild ein Dokument äußerster Unsicherheit und Gefährdung. Es hängt in der mittelalterlichen Kommende des Templerordens, zusammen mit anderen Bildinszenierungen der Fotografin Agnès Geoffray in der Ausstellung „Sie sind schräg, sie sind hartnäckig, sie sind stürmisch“. Hier erinnert sie an Erziehungsanstalten, in denen vom 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts minderjährige Mädchen eingesperrt wurden, die sich anders oder vermeintlich auffällig verhielten.
„Ich möchte nicht, dass man meinen Bilder ansehen kann, aus welcher Zeit sie stammen. Sie sollen etwas undefinierbares haben, so als kämen sie aus einem unbekannten Archiv. Meine ganze Arbeit beruht auf der Ambivalenz von Gesten und der Mehrdeutigkeit der Körperhaltungen. Ziel ist das instabile Bild.“
Die beeindruckenden Bilder des Widerstandes gegen die Beherrschung des weiblichen Körpers sind emblematisch für die 56. Rencontres d’Arles. Dieses Jahr stehen sie unter dem Titel „Widerspenstige Bilder“ – der Leiter, Christoph Wiesner, erläutert warum:
„Uns hat die Ankündigung von Donald Trump zutiefst schockiert und getroffen, alle bildlichen Hinweise auf Minderheiten aus den Archiven zu beseitigen. Das beweist umgekehrt die Macht der Botschaft, die in einem Bild steckt. Es kann sehr stören.“
„Disobedient Images“ kommen in zwei großen Länderschwerpunkten aus Australien und Brasilien, wo die aktuelle Fotografie die Unterdrückung von indigenen und der LGBTQIA+ Szene dokumentiert. Das sind individuelle Zeugnisse einer diversen Gesellschaft, Körperlandschaften, Kostüm- und Selbstinszenierungen, Themen, die dieses Jahr in Arles immer wieder auftauchen.

Am beeindruckendsten geschieht dies bei der schwarzen New Yorker Photokünstlerin Keisha Scarville, die Kleidung ihrer verstorbenen Mutter zu phantastischen Skulpturen formt.
„Ich glaube, wir sind Gefäße. Ich sehe den Körper oft als einen Träger, ein Behältnis für Geschichten und Narrationen und der Ort, an dem sie lebendig werden.“
In einer Yves-Saint-Laurent-Retrospektive und vielen weiteren Schauen ist der Körper des Menschen und sein Bezug zu Stoffen, ihren Mustern, Konturen und kulturellen Kontexten ein Thema. Nan Goldins neue Arbeit erweitert dies auf die bildende Kunst: Für ihren Film „Das Stendhal Syndrom“ setzt sie klassische Skulpturen und Gemälde in Beziehung zu lebenden Modellen.

All dies sind Körperlandschaften. Eher selten ist der Blick in die Konfliktzonen der Welt.
„La guerre n’est pas fini…“ Nur zwei Ausstellungen thematisieren explizit Räume des Krieges, wo vor allem Carine Krequé überzeugt: Ausgehend von Google-Earth-Ansichten Syriens recherchierte sie Fälle von Mord und Zerstörung.
Wie schon in der Vergangenheit widmen sich mehrere Künstlerinnen und Künstler in ihren Arbeiten der US-amerikanische Gesellschaft. Kourtney Roy inszeniert sich im Stil knalliger Pin-Ups als Touristin in unterschwellig gefährlichen Situationen; eine Ausstellung über die „US-1“ gibt Einblick in die Geschichte einer berühmten Fernstraße.
„Berenice Abbott war die US-1-Route im Jahr 1954 heruntergefahren, die den Osten der USA von Norden nach Süden durchquert. Anna Fox und Karen Knorr haben diese Reise viele Jahrzehnte später wiederholt. Zuerst wurde die Transformation der USA durch das Automobil dokumentiert, heute zeigen die zeitgenössischen Bilder all jene Menschen, die der amerikanische Traum zurückgelassen hat.“

Es sind vor allem die Körperansichten, die von diesen Rencontres d’Arles in Erinnerung bleiben. Das Individuum ist Thema. Die Menschenmenge, die Gruppe, Bilder mit soziologischer oder politischer Botschaft hingegen sind selten. Man wandert durch die alte Rhonestadt, wird begleitet vom Brummen der allgegenwärtigen Ventilatoren in der stickigen Luft der alten Kirchen, Klöster und Lagerhallen und stößt entweder auf farbintensive Kostüme und Masken indigener Kulturen oder einen melancholischen, nach innen gerichteten Ausdruck auf den Gesichtern von Abgebildeten der westlichen Welt. Sie erzählen von Menschen in einer materiellen oder spirituellen Krise.