Die-Ukraine-ist-auf-dem-Weg-zur-kulturellen-Autonomie

Ukrainische Kultur
Auf dem Weg zur kulturellen Autonomie
von Eberhard Spreng

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 02.12.2025 → Beitrag hören

Die Ukraine wehrt sich nicht nur gegen den russischen Angriffskrieg, sie ringt auch mit den Folgen der Unterdrückung ihrer Sprache und Kultur in der Vergangenheit. Unter anderem beim großen Theaterfestival „GRA“ in Kyjiw und drei weiteren Städten.

Bei Stromausfällen übernimmt der Generator die Stromversorgung der Geschäfte (Foto: Eberhard Spreng)

Ein großer Teil der ukrainischen Kulturavantgarde von heute ist derzeit freiwillig an der Front. Auch viele Theatermacher und Aktivistinnen verteidigen ihr Land militärisch. Diese Fronterfahrung hinterlässt Spuren, auch wenn die langsame Zermürbung noch hinter der mit Händen zu greifenden Entschlossenheit der Kyjiwer Bevölkerung verborgen bleibt. Die Traumata der Fronterfahrungen adressiert beim Festival GRA die freie Veteranentheatergruppe Театп Бетепахіб. Jenya Malyukevych gehört zu der Gruppe.

„Theater ist Heilung: Wenn du über dein Trauma schreibst, teils du dein Trauma. Das passiert auch, wenn ein Akteur auf der Bühne deine Worte spricht. Oder wenn das Publikum deinem Text applaudiert. Für Veteranen ist Theater nicht nur Traumatherapie. Es ist Bestätigung und Kommunikation.“

Viele Debatten spalten die ukrainische Gesellschaft derzeit: Sollen auch Frauen eingezogen werden? Wie sollten Exilanten und im Land gebliebene miteinander reden? All diese Fragen sind in den Inszenierungen des GRA – Festivals nur mittelbar präsent. Denn die fünf Nationaltheater der Hauptstadt bleiben gerne bei Klassikerinszenierungen in konventioneller Theatersprache.

„The Trial“, nach Franz Kafkas „Der Prozess“ erhielt bei „GRA“ gleich drei Preise für verschiednen Disziplinen. (Foto: Ira Marconi)

Die Rekonstruktion der ureigenen ukrainischen Moderne bleibt eine Herausforderung, wie die Schauspielerin und Theaterpädagogin Julia Linnik am Beispiel des in der Stalinzeit 1937 ermordeten Theatererneuerers Les Kurbas erklärt.

„Les Kurbas war ein berühmter ukrainischer Regisseur. Aber ganz ehrlich, auch das Molodyi Theater hier, wo er gewirkt hatte, versucht nicht, nach seiner Bühnenmethode zu arbeiten.“

Kyjiw ist mit seinen zahlreichen großen Bühnen zweifellos eine Theatermetropole. Und sein Publikum füllt auch im Krieg die Säle. Aber Theater ist womöglich das falsche Instrument, eine genuin ukrainische Kultur zu etablieren.

Mystetskyi Arsenal mit der Ausstellung „As long as we’re here, everythings will be fine“ über den ukrainischen Autor Vasyl Stus. (Foto: Eberhard Spreng)

Im Kulturhaus Mystetskyi Arsenal wird derzeit parallel zum großen Theaterfestival GRA unter dem verhalten optimistischen Titel „Solange wir hier sind, wird alles gut“ eine Ausstellung gezeigt, die dem ukrainischen Autor Vasyl Stus gewidmet ist. Er starb als Verfechter der kulturellen Autonomie der Ukraine 1985 im russischen Gulag. Die Ausstellung ist Beispiel für eine kulturelle Selbstdefinition der Ukraine nach Jahrzehnten der Sowjetherrschaft. Der Begriff „executed renaissance“ – die hingerichtete Renaissance – ist in der Kyjiwer Kultur- und Theaterszene in aller Munde und meint die von Stalin beendete kulturelle Blüte der 1920er Jahre. Manche benutzen diesen Begriff auch für das, was heute geschehen könnte, sollte Russland obsiegen. Die Theaterregisseurin Olena Apchel weiß, dass die Besinnung auf das eigene nationale Erbe in manchen westlichen Kreisen missverstanden wird.

„Für Nicht-Ukrainer sieht unser Vorhaben wie nationalistische Propaganda aus. Für uns ist es aber die Wiederherstellung unserer nationalen Identität. Etwas, das uns seit Jahrhunderten genommen wurde. Was Not tut ist: De-Imperialisierung, De-Kolonisierung und Ent-Russifizierung.“

Das Kulturhaus Mystetskyi Arsenal ist auch Spezialist in der Frage der Konservierung und der Sammlung von Kulturgut. Wegen der Gefahr des gezielten russischen Beschusses ist das allerdings teilweise ins Ausland ausgelagert. Damit ist es für das ukrainische Publikum und für dessen Bedürfnis nach kultureller Selbstvergewisserung nicht mehr sichtbar. Die Kuratorin Julia Naidukh muss die Balance finden zwischen Bewahren und Benutzen.

„Seit Anfang der Invasion haben wir entschieden, wichtige Teile unseres Kulturerbes nicht mehr zu zeigen. Aber jetzt merken wir, dass die Menschen die Geschichten aus unserer Vergangenheit brauchen und dass wir dieses Bedürfnis nicht jahrelang ignorieren können.“

Und so bleibt nicht nur das Darstellen und Zeigen, sondern auch die Etablierung und Verteidigung der ukrainischen Kultur aktuell in diesem Krieg und nach Jahrhunderten der zaristischen und Jahrzehnten der sowjetrussischen Unterdrückung eine große Herausforderung.