„Iwanow“ am Berliner Ensemble
Tschechow im Tennisclub
von Eberhard Spreng
Yana Ross gilt als Tschechow-Spezialistin, liest seine Stück im russischen Original und hat in verschiedenen Ländern verschiedene Stücke des russischen Klassikers aufgeführt. Für das Berliner Ensemble hat sie nun „Iwanow“ bearbeitet und mit modernem Figureninventar aktualisiert.
Deutschlandfunk, Kultur Heute – 22.01.2023 → Beitrag hören
Aus einem Lautsprecher kommt ganz zu Beginn der Aufführung ein Vortrag über die Todesqualen eines Hummers, den man in kochendes Wasser wirft. Eine moralische Frage wird aufgeworfen zwischen dem erwarteten Genuss des Menschen und der dafür dem Tier zugemuteten Qual. Später wird dieser Text noch einmal zu hören sein: Die jüdische Sarah liest ihn schon von ihrer Krankheit gezeichnet, ihrem Mann Nicolas vor, der schlapp auf einem Bänkchen in einer Umkleidekabine abhängt. Der Text über die Qual ist eine symbolschwere Aufladung für eine allzu leicht dahin plätschernde Komödie und vielleicht der Versuch der Regisseurin, in die Oberflächenphänomene ihrer Aufführung moralische Verantwortung einzustreuen. Denn sie verlegt die Handlung sehr frei nach Anton Tschechow in den Tennisclub „Netzroller“ in Gütersloh, aus der russischen Provinz ins Anywere des deutschen Mittelstandes. Man hängt gemeinsam im Vereinsheim ab, das recht realistisch auf der Drehbühne installiert worden ist. Die junge Sasha aus Berlin ist angereist. Ihr Geburtstag soll hier gefeiert werden, aber die von Amelie Willberg verkörperte Tochter des Vereinschefs Paul und seiner Frau Stina entdeckt in dem Vereinsleben vor allem leeren Zeitvertreib.
„Ihr seid das beste Beispiel für alle anderen Menschen die auch nur fressen, saufen, schlafen und sterben… Dann kommen neue Menschen zur Welt, die wieder fressen, saufen und schlafen. Und damit sie vor stinkender Langeweile nicht völlig verblöden, amüsieren sie sich mit Alkohol, mit Tennis, mit Instagram mit Lügen, mit widerlichen Lästereien.“
Musterexemplar dieser nichtsnutzigen Jedermanns ist natürlich Nicolas Iwanow, der hier von Peter Moltzen verkörpert wird. Mit der flachen Hand schlägt er sich immer wieder gegen den Schädel, als wollte er sich seine Gedanken aus dem Gehirn prügeln. Er spricht schnappatmend asthmatisch und so, als wolle er sich am liebsten die ganze Stimme aus dem Körper räuspern und damit seine Lieblosigkeit und seinen Selbstekel.
„Tag und Nacht quält mich mein Gewissen und ich weiß, dass ich schuldig bin, tief schuldig, ich weiß nicht genau was meine Schuld ist, und um ehrlich zu sein, Sascha, ich ertrage die Gesellschaft meiner Frau nicht mehr, meiner Frau, die mich liebt.“
Was die junge Sascha an diesem schrägen Macho findet, bleibt ihr Rätsel. Gegenspieler ist Arzt Jürgen, den Jonathan Kempf als hilflosen Mahner und Spaßbremse spielt. Innerlich kochend vor Wut über den Egoisten Iwanow, im Gespräch dann aber gehemmt und ohne Mut. Er und auch alle anderen werfen sich permanent gegenseitig das Scheitern an einer Moral vor, der sie selbst auch nicht gerecht werden. Das „Was“ in Tschechows Dramatik ist in Umrissen erkennbar, das „Wie“ der Verständigung zwischen den Figuren nicht. Nicht also, wie sie bei Tschechow über ihre Gefühle reden und nicht, wie sie schweigen. Hier sind alle permanent auf Sendung, permanent in Aktion, ständig im Mitteilungsmodus. Auch eine Marta, die gerade aus Dubai angereist ist und gelegentlich auf Instagram ihre stattlichen 120 Tausend Follower mit neuen Lifestyle-Anekdötchen versorgt und jetzt, des Titels wegen, gerne mal einen Grafen heiraten würde. Veit Schubert spielt ihn mit skurriler Melancholie ob seines so schnell dahingeflossenes Lebens. Oder Stina, die ihrem dauerbesoffenen Mann Paul seine weinselige Nachlässigkeit in Gelddingen mit Prügeln austreiben will. All das sind deftige Characters für eine Boulevardkomödie, die sich eigentlich auch gut ohne Tschechow im Titel verkaufen ließe.
Einmal versammelt Sasha die Alten und die Jungen des Clubs in einem Halbkreis und fragt nach den Triggerwörtern, die sie in Bezug auf ihre Person gerne nicht mehr hören würden. Aber die woke, junge Frau bekommt nur spöttisches Gerede zu hören. Zutiefst verkommenen Seelen ist mit Sprachhygiene nicht beizukommen, will uns die Regie wohl mitteilen. Der einzige ruhende Pol in dem schwer erträglichen Treiben dieser trübsinnigen Spaßgesellschaft ist die von Constanze Becker gespielte todkranke Sarah.
Was so leichtfüßig komödienhaft vor sich hin geht, muss ins Schaurige, Burleske umschlagen, wenn es um die dramatische Auflösung geht. Die Urne der toten Sarah steht nun auf dem Tisch. Die Trauergesellschaft grotesk ratlos; Nicolas Iwanow stößt mit dem Glas an die Urne, als könne er mit der Toten anstoßen, die er zu Lebzeiten doch tatsächlich als „kranke Judensau“ beschimpft hatte. Die folgende Heirat mit Sasha endet in greller Komik, als Desaster der verkorksten Seelen. Bleibt nur die Frage: Wo ist der Hummer, sein Leiden, seine Agonie und was bedeutet er in einem solchermaßen entkernten und an komischen Effekten berauschten Abend.