Volker-Loesche-inszeniert-Tartuffe-oder-Kapital-und-Ideologie

Kapitalismuskritik am Staatsschauspiel Dresden
Tartuffe und Piketty
von Eberhard Spreng

Was hat Religion mit Kapitalismus zu tun, als Ideologie, als Glaubensystem? Das will „Der Tartuffe oder Kapital und Ideologie“ von Soeren Voimas erkunden. Hinter diesem Pseudonym steckt der Dramaturg Christian Tschirner, der den Text in enger Zusammenarbeit mit dem Team um Regisseur Volker Lösch am Staatsschauspiel Dresden entwickelt hat.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 03.10.2021 → Beitrag hören

Foto: Sebastian Hoppe

Wie ein Betrüger in eine Familie eindringt und den Haushaltsvorstand mit frömmelnder Heuchelei manipuliert, um sich dessen Besitz unter den Nagel zu reißen, erzählt Molière in seinem berühmten Stück. Wie der Mitbewohner einer sozialistischen Wohngemeinschaft den dort auch wohnenden Erben der Schrottimmobilie in einen knallharten Geschäftsmann verwandelt und seine freakigen Hausbewohner in aufrechte Kapitalisten, erzählt das neue Stück von Soeren Voima am Staatsschauspiel Dresden. Es ist im besten Sinne des Wortes eine Stücküberschreibung, nutzt dramatische Triebfedern der Vorlage, seine Logik und seine komischen Wendungen, insbesondere im Verhältnis von Orgon zu seinem ideologischen Einflüsterer Tartuffe.

„Wenn Du anfängst, Orgon, positiv zu denken, also von den Lösungen her, vom Erfolg, dann wirst Du selbst auch immer positiver und in der Folge auch immer erfolgreicher!“

Wir sind in den 1980er Jahren, Orgon wohnt unter lauter Flower Power und linken Anarchos und von denen hat keiner Geld um irgendeine Zimmermiete zu zahlen, was Mutter Pernelle allmählich zur Weißglut treibt. An den angeranzten Wänden sind in Cary Gaylers Bühne wie Fresken das gigantische Antlitz Che Guevaras eingearbeitet oder John Lennon und Yoko Ono beim Bed-In, Antifa-Sprüche sind zu lesen, stapelweise Bierkästen zu sehen. Oben auf dem Dach verknäulen sich die Kommunarden zu den dröhnenden Riffs von Pink Floyd zu Gruppenbildern, die an Auftritte des Living Theatre erinnern. Von Tantra und Spermagnostik ist die Rede – vor allem von Damis. Er tritt nackt auf, eine Karikatur von Rainer Langhans dereinst in der Kommune I. Das alles gehört zwar nicht wirklich in die 1980er Jahre, passt aber besser in die Zeitenlogik, die das Stück erzählen will, über Kohl-Ära, Fall der Mauer, Neoliberalismus, Lehman-Pleite bis zur Gegenwart. Was als Gesinnung anfängt, endet im Mindset, was mal Selbstbefreiung war, endet als Selbstoptimierung im Dienste der Marktmächte. Jede und Jeder aus der ehemaligen Kommune macht auf ihre und seine Weise den Frieden mit der neoliberalen Ideologie. Nur Elmire rechnet in einem Rundumschlag mit allen ab und erklärt die strukturellen Zusammenhänge.

„Was wir als Ausbruch aus destruktiven oder neurotischen Familienstrukturen begonnen hatten, hat sich der Markt inzwischen mit Freuden unter den vergoldeten Fingernagel gerissen.“

Wie auch immer der und die einzelne mit seinen und ihren Träumen nunmehr in Gerhard Schröders Agenda-2010-Deutschland im Einzelnen umgeht, immer kommt eine vermarktbare Lebensstrategie dabei heraus.

Foto: Sebastian Hoppe

Sehr grell und laut und bunt hetzt die ulkige Parabel durch die Denkmoden und Stile der letzten Jahrzehnte. Für die Figurenzeichnung bleibt da fast nur Karikaturales. Das Gammeldekor wird stylisch und aus SPD-Mitglied Orgon wird nun ein reicher Politkarrierist. Denn auch seine Immobilie bewirtschaftet er jetzt profitorientiert. All das auf Betreiben Tartuffes, diesem an der Neoliberalistenschmiede Chicago School of Economics ausgebildeten Finanzbösewicht, der im Verlauf der Aufführung immer dicker wird. Natürlich rafft er in der Lehmann-Brothers-Krise dann den Reichtum der andern zusammen und die sind allesamt pleite.

Ein Kind bringt die Befreiung

Bei Molière kam am bösen Ende, als letzte Ordnungsmacht, der Abgesandte des Königs und verhaftete den Betrüger. Hier nun ist ein Kind der Deus Ex Machina, der Tartuffe den Fahrstuhlschacht herunterstürzen lässt. Aber so kann’s nicht enden. Weil nichts und niemand, kein Gott, König und auch kein Kind uns vom Kapitalismus befreien wird, endet die Aufführung mit einem kargen Proseminar in Finanzpolitik. Nun werden reihum Thomas Pikettys Vorschläge für eine Vermögens- und Erbschaftssteuerreform referiert, denn Eigentumsprozesse, so der französische Ökonom und Historiker, verschärfen die soziale Ungleichheit.

„Piketty weist darauf hin, dass sich die Bürger:innen durch das Verstehen historischer Zusammenhänge das ökonomische und historische Wissen zurückerobern können.“

Ein Abend als Sittenbild und als Statement, das sich die Vorschläge Thomas Pikettys zueigen macht. Wie aber aus Menschen mit Befreiungshoffnungen funktionierende Kapitalisten werden, egal ob arm oder reich, wie also ein Wirtschaftssystem sich als Ideologie in die menschliche Psyche einschreibt, darüber hat dieser plakative Abend zu wenig erzählt.