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Virginie Despentes inszeniert
Was kann Literatur?
Von Eberhard Spreng

Die Starautorin, Essayistin und Filmregisseurin Virginie Despentes ist eine Ikone der queeren Literatur. Nun inszeniert sie erstmalig am Theater ein Stück. „Woke“ entstand zusammen mit den Co-Autorinnen- und Autoren Anne Pauly, Paul B. Preciado und Julien Delmaire.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 13.03.2023 → Beitrag hören

Foto: Arnaud Bertereau

Vier Autorinnen und Autoren sitzen an einem langen Tisch zusammen, ihre Laptops sind aufgeklappt. Ihr Auftrag: Sie sollen ein Theaterstück schreiben, aber kaum hat eine von ihnen einen Vorschlag für eine erste Szene gemacht, die sie auf der Vorderbühne auch gleich performativ illustriert, beginnen schon die Einwände. Hier würden Geschlechterklischees bedient, man brauche einen anderen Einstieg. Die Vier wollen der französischen Gesellschaft der Gegenwart mit all ihren Spaltungen, kulturellen und politischen Kämpfen den Spiegel vorhalten und fragen sich: Wo wäre die Sprache, die frei ist von neuen Verunglimpfungen, eine Sprache die versöhnt und nicht spaltet. Zwei der Schreibenden sind schwarz und entlarven en passant rassistische Gewohnheiten in Vergangenheit und Gegenwart:

„Auf den Büchern über Sklaverei sieht man immer einen schönen schwarzen Mann, statt dessen müsste hier der weiße Plantagenbesitzer abgebildet sein und seine zufrieden grinsende Familie.“

Eine Gegenerzählung will „Woke“ sein oder besser ein ganzes Bündel von Gegenerzählungen, die allesamt in den Konfliktthemen Rassismus, Sexismus, Klassismus angesiedelt sind. Und immer wieder tauchen dann allegorische Figuren auf, als körperliche Manifestierungen des gerade Diskutierten. Z.B. die fulminant agierende Dragqueen Soa de Muse, die das begeisterte Publikum schon mit kleinsten Gesten in ihren Bann schlagen kann. Immer wieder müssen sich die schreibenden Darsteller auch fragen, in welchem Kontext ihr geplantes Werk wahrgenommen wird und immer wieder auch taucht ganz plötzlich der neue Theaterdirektor auf und erinnert sie an den Vertrag, den sie unterschrieben haben.

„Ihr gehört mir und auch eure Worte gehören mir“, sagt der selbstherrliche junge Direktor, mit dem in diesem Stück wohl auch eine Kulturpolitik à la Rassemblement National gemeint ist. Die in Franreich ohnehin schon stark nach rechts gerückte Presse taucht in der Gestalt von vier Journalisten auf, die die Autorinnen und Autoren mit Fragen malträtieren, die von rechten Ressentiments gegen Künstler nur so strotzen. Ist „Woke“ ein Kulturkampfstück? Ja und nein: Denn es fragt sich: Wie ist ein Widerstand möglich, der nicht schon in seiner Sprache neue Unterdrückung beinhaltet? Und: Wer bin ich Autorin, ich Autor mit meinen je eigenen Verletzungen und wie bestimmen diese meine Ideen? In der zwischen Aggression und Melancholie schwankenden Aufführung verspricht die Sprache eine Wahrhaftigkeit für inneres und äußeres Erleben nur dann, wenn sie sich von der Welt der Medien und des Internets entfernt und der Poesie annähert.

„Die Poesie ist wie eine Offenbarung, und Dank der Poesie werden Ideen zu Worten, die zuvor namen- und formlos waren.“ Auch bei der afroamerikanischen Dichterin und lesbischen Aktivistin Audrey Lorde sucht die geschundene Autorinnenschaft von heute Zuflucht und bei der, 2019 verstorbenen, ersten schwarzen Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison. Die Regisseurin Virginie Despentes lässt sie auftreten, wie eine milde, abgeklärte Figur. Sie ist hier ein die aktuellen Verwirrungen klug relativierendes, literarisches Vorbild. Die Bürgerrechtskämpferinnen vergangener Jahrzehnte sind hier, so scheint es, die intellektuellen Leitfiguren. Ist Literatur aber heute noch Ordnungsmacht in einer politisch verwirrten Gegenwart? fragt sich die französische Starautorin Virginie Despentes, die sich für einen wochenlangen Schreibprozess mit zwei literarischen Mitstreitern und einer Mitstreiterin im Théâtre du Nord in Klausur begeben hatte. Sie lassen sich nun vor vier Schauspielerinnen und Schauspielern vertreten. Aber auch diese Bühnenfiguren begegnen ihrem Double: Den verdrängten Abspaltungen ihrer Persönlichkeit, die als Alter Ego auftreten, in der Regel mit ungebremstem revolutionären Elan.

Foto: Arnaud Bertereau

Aus der Aufführung ist trotz mitunter etwas unbeholfener Regie eine unterhaltende Show vor ziemlich bedrückendem Hintergrund geworden: Die schiere Übermacht der Probleme kann wohl auch Poesie nicht heilen und so lässt die regieführende Schriftstellerin ihr Ensemble am Ende zu lauten Technoklängen bühnenoffen utopische Befreiungsformeln in den Saal schmettern. Das Publikum jubelt, tanzt zu Standing Ovations. Was das Individuum nicht schafft, seine Befreiung, soll hier als Kommunion des Kollektivs gelingen. Frankreich, so lässt die Begeisterung ahnen, hat danach eine große Sehnsucht.