Stas-Zhyrkov inszeniert-Postkarten-aus-dem-Osten-an-der-Schaubuehne

Ukrainisches Exiltheater
Eine Übung in Streitkultur
von Eberhard Spreng

Als Direktor des Kiewer Left Bank Theatre erlangte der Regisseur Stas Zhyrkov die Befreiung vom Kriegsdienst und die Erlaubnis, die Ukraine zu verlassen. Er nutzt dieses Privileg, um an verschiedenen Bühnen im Westen Europas für sein Heimatland einzutreten. An der Schaubühne urinszenierte er nun „Postkarten aus dem Osten“ von Pavlo Arie, Martin Valdès-Stauber und Ensemble.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 31.01.2024 → Beitrag hören

Foto: Gianmarco Bresadola

Lukas erwartet Besuch zum Abendessen. Er ist gerade in eine Berliner Wohnung eingezogen. Ein paar Umzugskartons stehen noch unausgepackt in einer Nische. Eine Altbauflügeltür markiert den Zugang zum Wohnzimmer; links steht ein Tisch für das Essen bereit. Vier Freunde wollen ein Wiedersehen feiern. Sie hatten sich 2014 in Mariupol kennen gelernt, bevor der Kampf zwischen ukrainischen Sicherheitskräften und der pro-russischen Volksmiliz ausbrach. Ein Deutscher, eine Deutsche, eine Ukrainerin, ein Ukrainer. Orest, der ukrainische Schauspieler, ist nach seiner Flucht aus dem belagerten Mariupol im Jahre 2022 im deutschen Exil ohne Arbeit, aber das könnte sich jetzt ändern.

Orest: „Ja. Echt tolles Projekt, großartiges Team und richtig gutes Skript. Die Castings waren letzte Woche. Sie wollen in drei Wochen starten.“
Lukas: „Glückwunsch mein Guter!“
Orest: „Lukas, ich werde die Rolle ablehnen.“
Lukas: „Aber was! Warum?“
Orest: „An dem Projekt sind russische Künstler beteiligt.“

An diesem von viel Rotwein, Bekenntnissen, Zerwürfnissen und Freundschaftsbekundungen geprägten Abend ist eine jede und ein jeder gezwungen, seine Lebenseinstellungen und seine politischen Überzeugungen ob des Krieges in der Ukraine einer Prüfung zu unterziehen. Yurii Radionov verkörpert mit geradezu ausufernder Gestik und großer Pose das Drama des Exilschauspielers, der insgeheim von Gewissensbissen geplagt wird: Müsste er sein Land nicht doch eher an der Front verteidigen statt im westlichen Kulturbetrieb? Für ihn kann es nur den Sieg über Putins Russland geben und eine makellose innere Fronthaltung. Der deutsche Dokumentarfilmer Lukas plädiert Orest gegenüber für Differenzierungen und die Bereitschaft, ein Leben mit Widersprüchen zu führen. Lehrerin Maria wiederum ringt innerhalb des deutsch-ukrainischen Quartetts mit ihrer pazifistischen Haltung.

„Wir sind alle Nachkriegskinder in einem Täterland und wollen nie oder nie wieder einen Krieg erleben. Aber vielleicht geben wir damit Tyrannen einen Freiraum, den wir nicht zulassen dürfen. Der Krieg geht uns alle an.“

Carolin Haupt verkörpert ein wohlmeinendes Deutschland, das sich seiner neuen Rolle auch mit dem Blick auf die eigene Geschichte in der Ukraine inne werden muss. Anastasía, ihre jüdische Freundin und vierte im Bunde, fürchtet sich im deutschen Exil vor dem grassierenden Antisemitismus. Sie arbeitet als Juristin an der Erfassung russischer Kriegsverbrechen. Es entstehen Debatten über die deutsche Schuld in der Ukraine der 1940er Jahre, aber auch die ukrainische Kollaboration beim Holocaust. Das alles will bewältigt sein, wenn man der putinschen Propagandabehauptung vom ukrainischen Nazitum eine fundierte Argumentation entgegensetzen will. Der Schauspieler Orest fordert vehement den Tyrannenmord, die Freunde fragen ihn, was damit gewonnen wäre. Immer wieder sind neben dem Streit Gesten der Versöhnung zu erleben. Stas Zhyrkov inszeniert einen Abend, der gegen das Klima der gesellschaftlichen Spaltung an die Utopie von Freundschaft und produktiver Streitkultur erinnert. Monologe unterbrechen die Gesprächssituationen; zwischen die Szenen schieben sich Zeitraffereffekte, so als sähen wir nur Ausschnitte eines langen weinberauschten Abends.

„Postkarten aus dem Osten“ ist ein Thesenstück, in dessen Verlauf immer mehr ukrainisch zu hören ist. Seine Figuren sind mit groben Strichen gezeichnet und immer wieder mal knarzt es in der Darstellungsmaschine. Das aufgedrehte Stück über Kunst und Krieg, Erinnerungskulturen und Gegenwartsbewältigung ist aber auch eine Verbeugung vor einem großen Abwesenden. Denn da ist immer wieder die Rede von einem Fünften im Bunde, Freund Mischa, von dem jede Nachricht fehlt und der vermutlich im Krieg verschollen ist. Die Erinnerung an ihn ist Glutkern des geteilten Schmerzes. Vielleicht ist dieser Mischa auch eine Figur, in der sich das Alter-Ego des exil-ukrainischen Autors Pavlo Arie und seines kongenialen Regisseurs Stas Zhyrkov spiegelt: Ein Stellvertreter für den abgespaltenen Teil ihrer Persönlichkeit: Die Ukraine an der Front, für die sie im Westen auf kultureller Ebene aktiv sind.